4. September 2017

Nicht noch ein Merkel-Witz!

Ich mach seit 15 Jahren Slam. Mit euch. Ich kenne euch als tolerant und offen, trotzdem steht heute ein großer Posten Ernüchterung unter dem Strich. Der typische Poetry Slammer ist weiß, männlich und aus Deutschland. Die deutschsprachige Slamszene hat ein Diversitätsproblem und redet nicht mal drüber.

 

Die Macht des Publikums

Wir wollen keine Expert_innen, wir wollen Feedback aus dem Bauch raus. Wenn ich mir den Shitstorm ansehe, den die TV-Kommentatorin bei der letzten Fußball-WM ausgelöst hat, oder die Vehemenz, mit der der letzte Ghostbusters-Film mit den tollen Frauen in den Hauptrollen im Web runtergevoted wurde, obwohl ihn kaum jemand gesehen hat, wird mir mulmig.

 

Da sitzt kein Hate im Publikum!

Dieser angestaute Hate aus dem Internet überträgt sich nicht zwingend auf das Publikum, aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Mehrheit im Publikum noch nie darüber nachgedacht hat, warum sie sich mit dem jungen, weißen, deutschen Mann, der da gerade so lieb redet, so viel leichter identifiziert, als mit der Frau, die schon auch irgendwie ganz gut ist, aber …

Das gilt für alle Abweichungen von anderen Attributen der Norm “weiß”, “deutsch”, “männlich”.

 

“Es sitzen doch auch Frauen* im Publikum”

Ja, es sitzen auch Frauen* im Publikum. Ändert aber nichts. Wir haben von Kindheit an gelernt, die Geschichten der Jungs mitzulesen, für uns mitzudeuten.
Schon 1994 schrieb Ruth Klüger in Frauen lesen anders: „Wir Frauen lernen lesen, wie die Männer lesen. Es ist nicht so schwer. Die interessanten Menschen, in den Büchern, die als wertvoll gelten, sind männliche Helden. Wir identifizieren uns mit ihnen. […] Wir werden dadurch aufmerksame Leserinnen*, während die meisten männlichen Leser* oft wenig anfangen können mit Büchern, die von Frauen* geschrieben sind und in denen Frauen* die Hauptrollen spielen.”

Vereinfacht gesagt: Die Mädels* können Pipi Langstrumpf und den Struwwelpeter lesen und dann entscheiden, was ihnen besser gefällt. Die Jungs* sind von Thommy nicht beeindruckt und finden sich in Pipi nicht wieder, also weg damit. Struwwelpeter, ab ins Finale!

Und ich weiß, unsere Identität ist ein Konstrukt, wir sind alle queerer zusammengesetzt, als wir denken, aber der Großteil des Publikum denkt das eben nicht. Das Publikum, so fürchte ich, sieht: Mann, Frau; fühlt: Kann ich nicht einordnen, macht mir Angst.

 

Wir alle wissen, dass Merkels Anzug nicht der schönste ist!

Und grade eben macht ein Slammer* einen Witz über die Merkel, aber eben nicht mal über deren Politik, sondern über ihr Aussehen und alle lachen und alle sind sich immer so verflucht einig.

Und ich bin wütend. Nicht nur wegen des Merkel-Witzes. Aber auch wegen des Merkel-Witzes, weil du, wenn du in mein Land kommst, Witze über die Merkel und den Berliner Flughafen machen kannst, und ich, wenn ich als Österreicherin* in dein Land komme, die Hälfte meiner Inhalte vergessen kann, weil das Publikum nur Deutschland und Privatfernsehen kennt. Die andere Hälfte der Texte kann ich schmeißen, weil man nördlich von Bayern, Dresden und Leipzig mein Hochdeutsch nicht versteht. Mein Hochdeutsch, nicht meinen Dialekt!

Und die jungen, deutschen, weißen Männer, die oft auch die Line-Ups gestalten, verstehen nicht, was ich will, wenn ich von ihrer Verantwortung spreche, aktiv dafür zu sorgen, dass in der Slamszene mehr Diversität entsteht und, wenn sie dann mal da ist, uns auch erhalten bleibt.

 

Jetzt zu Dir, weißer, männlicher, deutscher Prototyp!

Dein Privileg ist keine Vermutung von uns, kein Bauchgefühl und kein Zeichen dafür, dass wir bald wieder unsere Tage bekommen. Du bist ein weißer Mann aus Deutschland, du bist die Norm, es wird dir Platz eingeräumt, man hört dir zu. Dir, nicht einer Vorstellung davon, wie du zu sein hast. Wir sagen nicht, dass du nichts kannst. Wir sehen, was du kannst. Wir fragen nur: Warum müssen wir immer mehr können?

 

Einmal Zuhören- danke!

Weißt du, wir wollen gar nicht, dass es ist, wie es ist, weil wir Frauen* sind. Aber wenn wir uns seit 15 Jahren Slam, immer noch Geschichten erzählen, die sich seit 15 Jahren nicht verändern, obwohl wir doch total unterschiedlich sind, na? Fällt der Groschen?

Hör uns doch einfach mal zu, ohne gleich wieder über dich zu reden.
Sag nicht: „Schon wieder der Feminismusscheiß!“. Glaub mir, wir sind auch müde.
Sag nicht: „Bei meinem Slam kann es gar nicht sexistisch zugehen, ich mag Frauen voll!“. Denn 1. ist das egal, weil du 2. Frauen* voll mögen kannst und trotzdem sexistische Sachen machen, und 3. wenn du Frauen* voll magst und trotzdem sexistische Sachen machst, stimmt das mit dem Frauenmögen vielleicht gar nicht so.

 

Die meisten Slamveranstalter_innen*, Slam-Poet_innen*, die ich treffe, erlebe ich als offen und tolerant

Ein strukturelles Problem können ich und du nicht im Alleingang lösen. Wir können aber gemeinsam daran arbeiten. Und sag nicht, dass jetzt eh alles anders wird, weil es unter den U20ern so viele Poetinnen* gibt. Ich höre, wie die sich beschweren, über das, was im Backstageraum und in Bühnennähe passiert. Hast du noch nie was davon gehört? Ich schon. Von Fiva, Nora Gomringer, Sookee, Lydia Daher, Mia Pitroff und wie sie alle heißen, die auch mal mit uns hinten an der Bar rumgestanden sind. Und ich frage mich, was ich jetzt machen soll. Weiter für eine Szene arbeiten, die vor allem männlich, deutsch und weiß ist und die das noch nicht mal besonders stört? Oder von denen lernen, die gegangen sind?

 

Du bist dran, Junge.