„Hilfe, sie hat ‚ficken‘ gesagt“: von Pfui-Wörtern, Obszönitäten und Publikumsreaktionen
Wer spricht, dem*der wird zugehört. Und wer zuhört, dem*der ist das Gesagte manchmal unangenehm – insbesondere, wenn Frauen* sogenannte „anstößige“ Themen ansprechen. Warum ist das so und wie wirkt sich dies auf das Format Poetry Slam aus? Ein Erklärungsansatz.
Stellen wir uns ein kleines, drolliges Städtchen vor. Der Name ulkig, die Einwohner*innenzahl gering. Pluspunkte gibt es für eine spärliche ÖPNV-Anbindung, ein hohes Durchschnittsalter der Kulturinteressierten und viele katholischen Kirchen: Münsterland, Ostwestfalen, oder – der Endgegner – Oberbayern.
In der Location erwarten mich eingefleischte Theaterabonnenten*innen, in Schale geschmissen für einen gediegenen Abend voll anspruchsvoller Literatur.
Wohlwollend lächeln sie dem zierlichen Mädchen zu, das die Bühne betritt.
Diese kleine Frau auf dieser großen Bühne!
Wenn sie nicht gerade auf Slambühnen steht, verkauft sie Sexspielzeug, erzählt die Poetin. Zögerliches Kichern im Publikum, danach erstmal beklemmende Stille. Vielleicht hat mensch sich verhört, „Fellatio“ kann ja in diesem dubiosen Ruhrgebiet auch eine Kaffeesorte sein und „G-Punkt“ ist bestimmt irgendeine wissenschaftliche Abkürzung.
Doch dann sagt sie es. Laut.
„ORGASMUS“.
Als würde Geschlechtsverkehr Frauen* Spaß machen!
Das Szenario ist austauschbar, die Moral jedoch klar: Eine Frau*, die auf der Bühne darüber spricht, dass es zwischen ihren Beinen nicht aussieht wie bei Barbie oder dass sie schon mit MEHREREN Kens intime Kontakte gepflegt hat, begibt sich auf wackliges Terrain.
Denn während das Format Slam schon dadurch so spannend ist, dass die Reaktionen des zufällig zusammengewürfelten Publikums unberechenbar sind, ist bei „polarisierenden“ Texten umso mehr zu beobachten, wie sich die Geister scheiden. Die Spannweite reicht von überschwänglichem Lob zu „die jungen Leute haben nur das Eine im Kopf“, von der peinlich berührten Anstandsvier zur „ersten Zehn des Abends!“
Aber warum polarisiert es, Geschlechtsteile, -akte und Ausscheidungen anzusprechen? Warum frage ich vor gewissen Texten im Vorfeld Kolleg*innen, ob ich mich das „trauen“ soll? Im Jahr 2018 – während schon vor zehn Jahren T-Shirts mit der Aufschrift „Nichts reimt sich auf Muschi“ im Olympiastadion einen Weltrekord aufstellten und das „Penisspiel“ (an wem das vorbeigegangen ist – checkt Frau Lore aus!) Schulpflichtige seit der Unterstufe begleitet?
Grab her by the *BEEP*
Es gibt in der Slamszene so fantastische, starke Frauen*, die über Sexualität und ein gesundes Körperbewusstsein reden – und das Publikum? Größtenteils pikiert. Das Video von Lara Ermers fantastischem Text über ihre „Erdbeerwoche“ ging zu Recht viral – besondere Aufmerksamkeit gilt auch dem im Boden versinkenden Mann in der ersten Reihe, der nun sicher die Maserung des Fußbodens auswendig nachzeichnen kann.
Vielleicht wäre alles nicht so dramatisch, wäre es lediglich ein Slamproblem. Doch leider fördert eine durch binäres Geschlechterdenken gelenkte Erziehung von Mädchen* weltweit eine Kultur der Zurückhaltung. Das Augenmerk liegt nicht darauf, was wir sind und tun, sondern was nicht: Frauen* schreien beim Masturbieren nicht vor Lust das Haus zusammen. Frauen* bluten nicht wie abgestochene Schweine, sie haben Bauchweh. Frauen* kacken nicht, sie machen sich frisch. Mädchen* haben keine Scheide, sondern ein „da unten“.
„Schmuddelworte“ sind meine Lieblingsworte
Und dann kommt da so ein unverschämtes Format, das das Medium „Worte“ feiert, und Frauen* auf die Bühne lässt, die Pfui-Worte sagen! Denkt doch mal einer an die zarten Ohren der Männer*, denen die Blutung ihrer (Sexual-)Partnerin erst dann nicht egal ist, wenn sie nicht mehr kommt! Die dank Werbung immer noch glauben, Körperbehaarung bei Frauen* sei spätestens nach Nena in den 80ern ausgestorben! (Ein gutes Gegenbeispiel hier)
Poetry Slam ist eine Kunstform, die die Möglichkeiten der Sprache ausschöpft, mit dem Zusatz, dass die sprechende Person physisch anwesend ist. Eindrücke vermischen sich: das Gehörte und das Gesehene. Und dann ist da diese vermeintliche Inkohärenz zwischen der Frau* auf der Bühne und dem Wort: „Penis/ficken/Fotze/Analfissur…“.
Eine Frau mit derbem Mundwerk stört die Idylle
Das eigene Weltbild zu hinterfragen ist unbequem – erst recht, wenn dies in der Freizeit geschieht, die meist nicht dem sozialkritischen Denken obliegt.
Aber ist Feminismus stigmatisiert? Immerhin bewirbt derzeit eine Kosmetikfirma den „feministischen Look“ mit einem Musiksternchen, das mal den ESC gewann – und einer Lidschattenpalette namens „Feminist“. Feminismus als Marke? Ist doch toll!? Oder verkauft sich der Begriff nur gut bei Mädchen*, weil er nach Rebellion klingt? Wir hatten doch alle diese Phase mit schwarzen Haaren, Fake-Piercings und Airbrush-Tattoos. Das geht vorbei.
NEIN, verdammt!
Feminismus ist kein Zug, auf den mensch auf- und abspringen kann.
Er ist nicht „hip“, sondern ein Full-Time-Knochenjob.
Das „Outing“ als Feministin entpuppt sich als Spießrutenlauf. Gerade beim Date ist es meist ein einschneidender Moment, denn für viele Männer* steht kurioserweise fest, dass sie ab sofort nur noch alles falsch machen können.
Also hasst du alle Männer*?
Nein, eben nicht! Ich will nicht deinen Schwanz abschneiden und als Trophäe über meinen Türrahmen hängen und ich springe dir auch nicht ins Gesicht, wenn du mir die Tür aufhältst. Ich habe viele männliche* Freunde und das ist fantastisch! Außerdem: im Kampf um Geschlechtergerechtigkeit brauchen wir Männer* an unserer Seite!
Feministinnen sind sexy. Feministen auch! Nennt mich Fetischistin, aber Männer*, die gendern, sind mein guilty pleasure und wenn du dich für Frauen*- und Mädchen*rechte einsetzt, sei dir gewiss, dass du in mein Beuteschema fällst.
Feministische Männer braucht das Land
Und es tut sich dahingehend gerade einiges in der Slamszene. In meiner Ruhrpottheimat feiere ich gerade Emil Bosse, der seiner künftigen Tochter Mathilda im gleichnamigen Text Selbstbewusstsein und Stärke vermittelt[1]. Und auch die Deutschrapszene lässt mein feministisches Herz aufblühen: K.I.Z. brechen im genialen Live-Video zu „Ich könnte deine Mutter oder deine Schwester sein“ eine Lanze für Prostituierte und Stripclubtänzerinnen – und in traumhaftem Drag mit festgefahrenen Geschlechternormen.
Frauen* sind keine Wesen von einem anderen Stern. Wir sind nicht zart besaitet, nur weil unser Geschlechtsteil in den Medien seltener beim Namen genannt wird als eures. Vor mir darfst du mit der kolossalen Wurst angeben, die du in der Kloschüssel deponiert hast – aber rechne damit, dass ich die Challenge annehme!
Und wenn das jemandem peinlich ist? Dann bestärkt mich das erst recht darin, das Privileg, das mir die Bühne gibt, zu nutzen, um laut, schmutzig und unbequem zu sein.
[1] …und inzwischen, um den Eindruck des Mansplainings zu vermeiden, im Text das Wörtchen „soll“ in „kann“ umgewandelt hat.
– Das schöne Beitragsfoto ist übrigens von Lufre Photography