19. November 2018

Die Angst vor dem Ismus: Was Emotionen in Diskussionen zu suchen haben und was es mit dem Ismus-Vorwurf auf sich hat

Wenn im Internet über Feminismus, Sexismus, Ableismus oder Rassismus diskutiert wird, wird es schnell emotional. Betroffene werden wütend, Nicht-Betroffene verstehen manchmal die Welt nicht mehr, wenn ihnen Ismen vorgeworfen werden.

Aber sollten diese Vorwürfe deswegen lieber ganz ausgeklammert werden? Ist man sonst gar selbst schuld am Netz-Hass, der auf jeden Ismus-Vorwurf folgt? Schreckt diese Art von Labeling Menschen ab, die sich prinzipiell für die Ideen des Feminismus begeistern könnten? Ein zweischneidiges Schwert. Und kein leichtes Thema! Da steckt wahnsinnig viel drin. Deswegen zunächst eine Unterscheidung: Das eine ist die generelle Feststellung von Strukturen, von denen niemand ganz frei ist. Die ist meiner Meinung nach richtig und kann sogar konstruktiv sein. Dazu gehört auch der Gedanke, „Ally“[1] zu sein und trotzdem falsch liegen zu können. Etwas anderes ist die generelle Freundlichkeit und der Ton, der in solchen Diskussionen oft angeschlagen wird – von Befürworter*innen und Gegner*innen gleichermassen. Also auch von Feministinnen*. Ob nicht auch Emotionen einen wichtigen Beitrag zum Diskurs leisten können, ist ein Diskussionspunkt.

 

Worum geht es eigentlich?

Ein Beispiel: Auf Twitter schildern PoC[2] ihre Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung. Nach Vorbild des Hashtags #metoo, unter dem Frauen* über Alltagssexismus schrieben, dient dazu der Hashtag #metwo. Hier twittern in einer erschreckenden Masse Betroffene über scheinbar harmlose Fragen zu ihrer „wirklichen“ Herkunft, racial profiling, Beschimpfungen, Drohungen und körperlichen Angriffen.

Und dann gibt es da diejenigen, die reagieren. Mit Häme, Wut und Ignoranz. Es sind Menschen, die durch ihre Privilegien niemals von Rassismus betroffen waren und sich allein durch diese eigentlich erfreuliche Tatsache wahnsinnig benachteiligt zu fühlen scheinen. Oder sind es vielleicht einfach Menschen, die sich nicht genug mit dem Thema auseinandergesetzt haben? Die zu früh beschuldigt wurden, rassistisch zu sein und nun keine andere Wahl haben, als sich gegen die Bewegung der political corectness zu stellen?
Ich glaube nicht.

Natürlich hilft es erstmal niemandem, der oder die offen und ehrlich fragt, wo denn das Problem liegt, wenn er oder sie sofort von einem wütenden Mob aus selbsterklärten Allies und sensibilisierten Betroffenen als Rassist*in beleidigt wird.

Aber wenn jemand etwas sagt, das rassistisch ist, dann darf das auch als genau das bezeichnet werden. So viel muss jemand aushalten können, der sonst jedes Privileg genießt.

 

Ich habe genug davon, ständig auf Menschen Rücksicht nehmen zu müssen, die sich rücksichtslos und falsch verhalten

Ich habe mich mein ganzes Leben lang mit Sexismus auseinandersetzen müssen, ganz einfach, weil es mich betrifft. Wenn jetzt jemand erwartet, dass ich geduldig von A-Z erkläre, was genau Sexismus ist, welche Struktur in seinem Verhalten gerade besonders verletzend war und wieso dieses Konzept überhaupt wichtig ist, dann zeugt das davon, dass dieser Jemand sich bisher nie mit Sexismus auseinandersetzen musste. Das ist ein Privileg.

Damit liegt die Verantwortung, sich aufzuklären und sich zu sensibilisieren bei dieser privilegierten Person und nicht bei mir.

Die Erwartungshaltung, ich als Betroffene dürfe den- oder diejenige*n, der oder die mich (vielleicht unabsichtlich) verletzt, herabgewürdigt oder getriggert hat, auf keinen Fall vor den Kopf stoßen, sondern müsse diese*n mit Samthandschuhen anfassen, geht mir tatsächlich gehörig auf die Eierstöcke. Wenn jemand behauptet, ich sei deswegen selbst schuld daran, wenn solche Menschen dann vom Feminismus abgeschreckt sind und durch meine Weigerung, sie in Watte zu packen, in ein rechtes Lager „getrieben“ werden, muss ich sagen: Bullshit.

Wer kein Mü offen ist für Selbstkritik und es sich so leicht macht, andere für sein diskriminierendes Denken verantwortlich zu machen, sich mit den Konzepten von beispielsweise Rassismus und Sexismus nie auseinandergesetzt hat, der wird auch mit den freundlichsten und vorsichtigsten Hinweisen auf das Fehlverhalten kein*e Feminist*in.

Das gilt übrigens auch für die, die meinen, bereits auf der richtigen Seite zu stehen. Wie oft habe ich es erlebt, dass eine Person, die bereits vieles sehr richtig macht, grundsätzlich sensibilisiert und informiert ist und sich selbst als Feminist*in, links oder aware bezeichnet, überhaupt nicht damit umgehen kann, wenn ihr dann doch mal ein Ismus vorgeworfen wird.

Dabei geht es gar nicht darum, jemanden zu labeln. Wer als Weiße*r eine rassistische Äußerung tätigt, ist nicht zwingend ein*e Rassist*in, sondern hat eben genau das: eine rassistische Äußerung getätigt, was angesichts der Jahrhunderte langen westeuropäischen Herrschaftsideologie nicht besonders verwunderlich ist.

Sexistisch, ableistisch, rassistisch, klassistisch, homophob oder antisemitisch zu sein – das ist uns vermutlich allen schon mal passiert. Die Frage ist dann einfach, wie man damit umgeht. Zu sagen:

Ich bin doch einer von den Guten ich KANN gar nicht falsch liegen!“ 

ist dabei sicher der falsche Weg.

Die Reaktion ist aber häufig. Allies finden es oft „lächerlich“, dass nun „ausgerechnet“ ihnen vorgeworfen wird, sexistisch zu sein. Wo sie doch Feministen* und absolut aufgeklärt sind! Da ist es dann manchmal sogar in Ordnung, den Frauen*, die es gewagt haben, sie zu bezichtigen, die Wahrnehmung abzusprechen und sie als „hysterisch“ zu bezeichnen oder die ganze Sache für „übertrieben“ zu erklären. Und das als Nicht-Betroffene.

Diese Diskussionen zeugen auch häufig davon, wie fragil die männliche Unterstützung sein kann. Da muss man dann plötzlich aufpassen, dass man nicht „selbst schuld“ daran ist, sogar treue Supporter* mit Kritik zu vergraulen.

Dabei könnte das klare Benennen von Fehlern, von Eigenwahrnehmung und toxischen Strukturen etwas sehr Konstruktives sein.

Ich gebe zu: Nicht immer habe ich in netzfeministischen Diskursen das Gefühl, dass Labeling konstruktiv betrieben wird. Dafür habe ich großes Verständnis, denn seien wir ehrlich: nach dem tausendsten Kommentar, der sich an der Grenze zur Ignoranz bewegt, nervt es einfach. Trotzdem würde ich stark dafür plädieren, sich Vorwürfe erst mal gefallen zu lassen!

Wenn jemand dir einen „Ismus“ vorwirft, kannst du natürlich beleidigt sein, ihn sofort von dir weisen und weiter selbst bestimmen, welche deiner Privilegien du nutzt. Oder aber du hörst zu und denkst drüber nach. Mir ist es selbst schon passiert, dass mir rassistische Muster vorgeworfen wurden und ich zuerst zutiefst beleidigt und in meinem Selbstbild verletzt war. Ganz nach dem Muster: „Aber ich bin doch keine Rassistin und tue so viel für die Community! Wie undankbar!“ Meistens haben etwas Nachdenken, offenes selbstkritisches Nachfragen und ein bisschen Recherche (denn mit meinem Privileg als Weiße ist es mein Job, mich zu informieren!) aber doch ergeben, dass der Vorwurf nicht ganz unzutreffend war. Und ich habe daraus lernen können. Denn Dankbarkeit ist ganz sicher nichts, was jemand Diskriminiertes dir entgegenbringen muss.

Das würde ich mir übrigens für jede Diskussion wünschen. Wenn dir ein*e Betroffene*r etwas vorwirft, dann versteck dich nicht hinter deinen Privilegien, nicht zuhören zu müssen, sondern sei alarmiert und hinterfrag dich selbst! Ally zu sein bedeutet nicht, sich alles erlauben zu können. Es bedeutet in erster Linie Selbstarbeit.

Nicht in diesem Ton, mein Fräulein!

Kommen wir noch mal zum Punkt Freundlichkeit. Man kann oft beobachten, wie Gespräche in Kommentarspalten völlig aus dem Ruder laufen. Mich stört der vorherrschende Hass sehr und mich stört auch, dass nicht selten von Anfang an mit einer missgünstigen Haltung diskutiert wird. Oft habe ich das Gefühl, alle nehmen jeweils nur das Schlechteste von ihren Gesprächspartner*n*innen auf. Das kann ja nicht gut kommen.

Ausserdem: Ja, ich denke, wenn man sein Leben lang von einem Problem betroffen war, sich immer wieder rechtfertigen musste, immer wieder herabgesetzt und nicht respektiert wurde, dann hat man jedes Recht, wütend zu sein. Dann ist es völlig verständlich, dass man alarmiert ist und vielleicht sogar übersensibel. Dann darf man mit persönlicher Betroffenheit argumentieren, denn darum geht es ja. Und dann kann diese Emotionalität der Debatte auch gut tun, sie kann veranschaulichen, worüber man vorher nur theoretisch sprechen konnte.

Das Betroffenen zu verbieten, ihnen vorzuschreiben, wie sie über ihre Erfahrungen zu berichten haben, ist schlichtweg anmaßend. Der Fachbegriff dafür nennt sich Tone Policing und ist noch nicht mal ein Ismus. Slam Alphas Mitglied und ehemalige Chef-Redakteurin Svenja Gräfen hat genau über dieses Phänomen eine sehr gute und informative Instagram-Story gemacht.

Aber dann gibt es ja auch noch das Phänomen, dass seitens Menschen emotional und beleidigend diskutiert wird, die sich zwar passioniert und schon lange für die Belange Betroffener einsetzen, aber selbst nicht direkt betroffen sind.

Ich selbst bin da absolut nicht frei von Fehlern. Im Gegenteil: Ich stürze mich oft mit Leidenschaft und einer gewissen Portion Rechthaberei in solche Diskussionen und dabei passiert es mir natürlich ab und an, dass ich mich tatsächlich in etwas hineinsteigere und sehr ungeduldig mit allen bin, die sich aus meiner Sicht falsch verhalten oder einfach nicht kapieren wollen, dass ich Recht habe.

Ich breche dann Gespräche ab, mache mich über meine Gegner*innen lustig oder antworte nur noch zynisch oder wütend. Oft auch aus reiner Hilflosigkeit angesichts der Ignoranz meiner Gesprächspartner*innen. Und das finde ich nicht okay. Denn: Hier nutze ich meine Privilegien nicht ideal. Wenn ich als Weiße das Gespräch über Rassismus verweigere, habe ich meine Ruhe. Ich kann rassistische Aussagen ignorieren oder meine Zeit für zu wertvoll halten, um mich mit denen auseinander zu setzen, die sie tätigen.

PoC können das nicht. Für sie ist das Gespräch dann nicht vorbei, sie werden morgen wieder damit konfrontiert und übermorgen auch und wenn es dumm läuft, dann nicht nur mit einem Gespräch, sondern in Form von Beleidigungen oder Angriffen. Wenn ich als Privilegierte da etwas abfangen kann, vielleicht etwas ruhiger und geduldiger erklären kann, sollte ich das tun.

Und in dieser Situation habe ich zwar immer noch Verständnis dafür, wenn man wütend und emotional wird, aber als Nicht-Betroffene*r hat man auch die Verantwortung, sich zwischendurch zu reflektieren, sich vielleicht zu beruhigen und Arbeit zu übernehmen, für die Betroffene keine Kraft mehr haben. Und den Vorwurf, Menschen mit einer ruppigen Antwort oder Beschuldigung „vergrault“ zu haben, mitschuld daran zu sein, dass sie sich verschließen, statt sich offen mit der Thematik auseinander zu setzen, kann man dann zwar immer noch „Bullshit“ nennen, aber plötzlich ist die Verantwortung doch größer. Denn den Privilegierten könnte es ja egal sein, ob die Verschreckten dann eben aus Trotz Rassist*innen werden. Den Betroffenen aber eben nicht.

Von Männern* wünsche ich mir deshalb im Bezug auf Sexismus genau das:

1. Geht nie davon aus, alles sowieso richtig zu machen

2. Bleibt offen und reflektiert euch selbst

3. Seid nicht beleidigt, wenn euch ein Ismus vorgeworfen wird, sondern geht erst mal davon aus, dass was dran sein könnte

4. Prüft euer Verhalten/eure Wortwahl und ändert es gegebenenfalls

5. Erwartet keine Dankbarkeit oder übertriebenen Respekt dafür, dass ihr keine Arschlöcher seid, sondern Feministen*

6. Betreibt kein Tone Policing! Schreibt keiner Frau* vor, wie sie über Sexismus zu sprechen hat

7. Übernehmt öfter mal Kämpfe, die anstrengend für euch sind, aber noch anstrengender oder gar bedrohlicher für Betroffene sein könnten

8. Seid ruhig wütend und emotional und hysterisch, wenn es um euch geht, aber versucht, geduldig und rational zu argumentieren, wenn ihr selbst nicht betroffen seid und vielleicht die Macht habt, jemanden mit viel Geduld zu überzeugen

 

 

[1] Als Allies (von englisch: Verbündete*r) bezeichnen sich Menschen, die selbst nicht betroffen sind, Betroffenen aber unterstützend gegenüberstehen und ebenfalls für deren Rechte eintreten.

[2] People of Colour (kurz: PoC) ist die momentan korrekteste Bezeichnung für Nicht-Weiße.