Mund auf!
Einen Text über das Fehlverhalten von anderen Personen zu schreiben und ihn vor Publikum vorzutragen, fällt uns oft leichter als entsprechendes Verhalten im Alltag von Angesicht zu Angesicht zu kritisieren. Aber auch das ist wichtig!
„Sie sind ja jetzt keine Bohnenstange und das kommt ja sicher auch nicht von ungefähr.“
Mein neuer Zahnarzt ist ein freundlich lächelnder, perfekt gepflegter und trotz seines scheinbar früh ergrauten Haares sehr jung aussehender Mann. Wenn man diesen Begriff verwenden möchte, kann man ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, als idealgewichtig beschreiben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir ein sehr nettes Beratungsgespräch geführt, während dem er mir abwechselnd die frisch angefertigten Röntgenaufnahmen meiner Zähne erklärt und immer wieder interessierte Nachfragen zu meinem Studium oder meiner Person gestellt hatte. Doch dann fiel dieser Satz und damit sollte es nicht enden: „Wissen Sie eigentlich, dass täglich Cola und Fanta zu trinken für Ihre Zähne überhaupt nicht gut ist? Diese Zuckerimpulse haben ganz verheerende Folgen.“ Ich hatte nicht mit einer Silbe erwähnt, täglich Cola oder Fanta zu trinken. „Also wenn Sie wollen, hier im Haus gibt es auch einen super Sport- und Ernährungstherapeuten, der nimmt Sie mal so richtig in die Mangel“. Keine Frage zu meinen sportlichen Aktivitäten. Mein Zahnarzt schien durch jahrelange Erfahrung ein natürliches Gespür zu haben.
Leider war das bei Weitem nicht das erste Mal, dass mir im Gespräch mit Ärzt*innen eine solche Situation begegnete.
Während die meisten Menschen im persönlichen Gespräch wenigstens den Anstand besitzen, ihre oberflächlichen Urteile für sich zu behalten, verhält es sich bei Personen mit medizinischem Hintergrund offenbar anders. Anscheinend sind sie der Auffassung, dass ihr Medizinstudium ihre Verpflichtung zu Respekt gegenüber ihren Mitmenschen aufhebt und merken dabei nicht, dass ihre Urteile (ohne entsprechende vorherige Nachfragen) genauso oberflächlich sind. Dabei müssten doch gerade diese Menschen wissen, dass der Zusammenhang zwischen Ernährung, sportlichen Aktivitäten und Übergewicht zwar definitiv vorhanden, aber nun mal nicht linear ist.
Seit ich mich erinnern kann, habe ich „ein paar Kilos zu viel“
Schon meine Mutter musste vor sämtlichen Lehrer*innen den Inhalt meiner Brotdose rechtfertigen und keiner wollte glauben, dass der Inhalt meist wesentlich gesünder war, als das, was meine Mitschüler*innen dabeihatten. Früher fand ich es himmelschreiend ungerecht, wenn ich sah, was andere essen konnten, ohne dass ihr Körper es ihnen direkt heimzahlte. Ich litt unter meinem Übergewicht – und zwar nicht physisch. In der Pubertät trägt man sowieso schon genügend Konflikte mit sich und dem eigenen Körper aus. Zusätzlich von allen Seiten gesagt zu bekommen, das mit einem etwas nicht stimme, verstärkt den Selbsthass noch mehr. Ich trug im Sommer konsequent lange Jeans, weil ich meine Beine nicht zeigen wollte und ich ging jahrelang nicht schwimmen. Heute kann ich in den Spiegel schauen und mich so, wie ich bin, schön finden. Aber der Weg dahin war lang und am Ziel bin ich noch lange nicht. Mittlerweile habe ich jedoch verstanden, dass nicht ich das Problem bin, sondern all die Leute um mich herum, die unbegründet der Auffassung sind, sie wären in der Lage und berechtigt, ein Urteil über den Körper eines anderen Menschen zu fällen.
Trotzdem verließ ich die Praxis ohne ein einziges Widerwort
Und das ärgerte mich fast noch mehr als der Vorfall selbst. Das konnte ich doch nicht auf mir sitzen lassen! Ich schrieb noch am selben Tag wild entschlossen einen Brief an meinen Zahnarzt. Wenige Tage später erhielt ich eine Antwort per Mail, die mich nur teilweise zufrieden stellte, denn er entschuldigte sich zwar, mir persönlich zu nahe getreten zu sein, verteidigte aber seinen Ansatz, „Menschen wie mich ein bisschen wachrütteln zu müssen“. Als würde man als Frau nicht eh schon täglich von allen Seiten damit konfrontiert werden, nicht in ein völlig absurdes Idealbild zu passen. Fehlte nur noch, dass sich nun auch mein Zahnarzt dazu berufen fühlte, seine Patientinnen darauf aufmerksam zu machen.
Ein paar Wochen später sollte ich bei einem Behandlungstermin doch noch meine Chance bekommen, persönlich für mich einzustehen. Als er denselben Satz vom Anfang der Geschichte nochmals wiederholte, stellte ich ihn vor seinen Assistent*innen zur Rede. Auf seine schwache Rechtfertigung hin, er wolle ja nur helfen, fragte ich ihn, ob er denn eine Vorstellung davon habe, wie vielen Menschen er mit derlei Aussagen ein schlechtes Gefühl verschaffen würde und ob er dünnen Patient*innen auch raten würde, sie sollten weniger Cola und Fanta trinken, denn nicht jedem sehe man die schlechte Ernährung auf den ersten Blick an. Und schliesslich erklärte ich ihm, dass er mir als mein Zahnarzt liebend gerne Feedback zu meinen Zähnen geben dürfe, der Rest meines Körpers ihn aber nichts angehe.
Für mich gab es in dieser Situation nichts zu verlieren, denn im schlimmsten Fall hätte ich die Praxis gewechselt und ihm auf allen Internetplattformen schlechte Rezensionen geschrieben. Das wusste er. Doch so weit kam es nicht: Er entschuldigte sich vor Ort und am Abend erhielt ich eine Nachricht, in der er noch ein weiteres Mal versprach, sein Verhalten nicht nochmal zu wiederholen.
Auf der Bühne sind wir laut! Aber wie sieht’s abseits der Bühne aus?
Ich stelle mich oft genug im Monat auf Bühnen, stehe für mich ein und rufe dazu auf, dass Menschen ihre Meinung sagen sollten. Was mir vor einem aufmerksamen Publikum leichtfällt, kostete mich im persönlichen Kontakt auf einmal unerwartet viel Überwindung. Trotzdem oder genau deshalb ist es wichtig, auch abseits der Bühne hörbar zu sein. Diese Geschichte würde sicherlich genügend Material für einen neuen Text bieten, aber damit hätte ich bei der Person, die sich falsch verhalten hat, nichts erreicht. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass sich mein Zahnarzt jetzt von Grund auf verändert hat. Doch vielleicht war es ihm unangenehm genug, um in Zukunft in seiner Ausdrucksweise vorsichtiger zu sein. Sollte es am Ende jedoch nur dafür gut gewesen sein, einmal mehr laut auszusprechen, dass ich so, wie ich bin, gut bin, reicht mir das auch.