7. Dezember 2020

Literarische Frauenbilder und Autor*innenschaft im Wandel der Zeit

Wenn man möchte, kann man Poetry-Slam-Texte als das aktuellste literarische Genre betrachten. Unsere Bühnenliteratur ist unmittelbar, aktuell und nah am Publikum.

Poetry Slam versteht sich als niederschwelliges Format, bei dem prinzipiell jede*r mitmachen darf, der*die möchte. Das führt vermehrt dazu, dass nicht nur männliche, sondern auch weibliche und nicht binäre Autor*innen kreativen Ausdruck im Schreiben finden und ihre Stimme in die Öffentlichkeit tragen. Selbstverständlich ist das nicht.

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Die Lüge des literarischen Kanons

Es ist so: Was gemeinhin in Germanistik- und Literaturstudiengängen so schön als der „literarische Kanon“ bezeichnet wird, meint zunächst eine Sammlung literarischer Werke, denen in ihrem geschichtlichen Kontext ein herausragender, normsetzender und zeitüberdauernder Stellenwert zugeschrieben wird.

Der literarische Kanon soll eigentlich einen Überblick darüber geben, was Autor*innen in den bisher vergangenen Literaturepochen geschrieben haben, welche ästhetischen Ansprüche und Theorien sie für ihre Werke hatten, welche Diskurse ihr Schriftsterller*innen-Dasein geprägt haben.

Eigentlich eine gute Idee, aber leider nicht die ganze Wahrheit. Der deutschsprachige literarische Kanon ist ein Kanon weißer, heterosexueller cis-Männern.  Somit gibt er notwendigerweise einen männlichen Blick auf die Literatur und Welt wieder, der sich eine Universalität anmutet, die er nicht hat:

Der Blick auf die Welt, den die tradierte Literatur favorisiert, ist ein männlicher Blick und das Subjekt, das sich in dieser Welt konstituiert, ein männliches Subjekt. Diese Tatsache ist jedoch verschleiert, denn der literarische Kanon beansprucht universale Gültigkeit, während er gleichzeitig diese Universalität aus einer spezifisch männlichen Perspektive definiert.[1]

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Schreibende Frauen in der Literaturgeschichte

Die große Frage, die sich also stellt, ist die, warum es nahezu ausschließlich männliche Schriftsteller gab und nicht auch Schriftsteller*innen anderen Geschlechts – und die Antwort ist so traurig wie logisch: Die gesellschaftlich diktierten Bedingungen weiblich gelesener Existenz haben eine weibliche schriftstellerische Tätigkeit lange Zeit unmöglich gemacht. „Ausgeschlossen von Bildung, in der Ehe rechtlos und ohne eigenen Besitz, den sie ihren Töchtern hätte hinterlassen können, waren [Frauen] zu häuslichen Tätigkeiten in den Diensten anderer gezwungen.“[2] Zudem wurden Frauen, die nicht diesen Umständen zum Opfer fielen, größtenteils aktiv aus der Produktion von „Hoher Literatur“ ausgegrenzt.

So konstruierten beispielsweise Goethe und Schiller zur Zeit der Weimarer Klassik den Begriff des „Dilettantismus“ und verwendeten dilettantische Literatur als Sündenbock für die Modernisierung des literarischen Markts, der ihn für eine breitere Masse an Rezipierenden erschließt.[3] Obwohl sie Dilettantismus nicht direkt als Frauenliteratur definierten, erläuterten sie ihren Begriff doch anhand von Frauenliteratur und grenzten ihn mit den Zuschreibungen „passiv, rezeptiv, leidend“ von der hohen Kunst als „aktiv, produzierend, wirkend“ ab, was mit der zeitgenössischen Bestimmung der Geschlechtscharaktere übereinstimmt.[4] Diese Ausgrenzung von Frauen aus der hohen Literatur per Definition führt für schreibende Frauen automatisch zur Abwertung der eigenen Produktion bis hin zur Selbstauslöschung, weshalb bis heute (abgesehen von Anette von Droste-Hülshoff und Ingeborg Bachmann) kaum eine Autorin Einzug in den deutschsprachigen Kanon gehalten hat.[5]

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Die Suche nach Vorbildern

Heute hat sich die Situation von Frauen im Vergleich dazu deutlich verbessert. Eigene Berufe, eigenes Vermögen und Unabhängigkeit von einem männlichen Pendant sind keine Ausnahme mehr.  Tendenziell haben Schreibende jeglicher Geschlechtszugehörigkeiten inzwischen gleiche Möglichkeiten, ein Buch zu veröffentlichen, Literaturpreise zu gewinnen – oder eben bei Poetry Slams mitzumachen.

Einen Vorteil haben die männlichen Kollegen jedoch, den sie auch nicht so schnell einbüßen werden: Ihre Vorbilder. Aus jeder literarischen Epoche finden sich männliche Schriftsteller, deren Werke und Technik Mann sich zum Vorbild nehmen kann, während der Weg für Frauen und Enbys gerade erst beginnt. Weibliche und non-binäre Stimmen sind neu, sind ungewohnt und können sich, was ihre Literaturgeschichte angeht, nur auf ihre explizite Geschichtslosigkeit beziehen.

Frauenfiguren und Enby-Figuren, die in der Literaturgeschichte existieren, sind beinahe ausschließlich Figuren, die nicht ihre eigene Subjektivität wiedergeben, sondern das, was sich ein Mann unter der Lebenswelt von Frauen und Enbys (oft fälschlicherweise) vorstellt.

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Und heute?

Die gute Nachricht ist: Poetry-Slam-Texte von Frauen und Enbys stellen sich genau gegen diese Literaturgeschichte. Trotz dem Mangel an Vorbildern und dem immer wiederkehrenden Propagieren von Geschlechterstereotypen gibt die Slam-Szene Frauen und Enbys eine Plattform, über die sie ihre Stimme in die Welt tragen können. Indem sie rein weibliche oder non-binäre Blicke auf die Welt wiedergeben, stellen sich schreibende Frauen und Enbys gegen die Auswirkung des literarischen Kanons, der einen rein männlichen Blick auf die Welt wiedergibt. Die Figuren in Texten von Frauen und Enbys sind mitunter dynamisch, divers, glaubwürdig und feministisch.

Für meine Zulassungsarbeit zum Thema Darstellung von Frauenbild und Feminismus in Poetry-Slam-Texten habe ich über 50 Slam-Texte gesichtet und 15 davon einer Analyse im Zeichen der feministischen Literaturkritik unterzogen. Das Ergebnis war: Wir machen das ziemlich gut. Keiner der Texte reproduziert Geschlechterstereotypen, vielmehr transzendieren die Texte die Geschlechterrollen und geben einer neuen weiblichen bzw. non-binären Subjektivität Raum.

Die Texte propagieren Menschenbilder, die sich deutlich von Geschlechterstereotypen abheben. Somit werden diese Bilder in der Vorstellung des Publikums normalisiert und es wird ein Beitrag dazu geleistet, dass Figuren jeglichen Geschlechts so vielfältig und unterschiedlich dargestellt werden, wie sie auch in der Realität sind.

Wir können unsere (Literatur-)Geschichte nicht ungeschehen machen. Aber wir können sie weiterschreiben: Diverse, runde, glaubwürdige und vielschichtige Menschenbilder erschaffen. Allen Geschlechtern den Raum zugestehen, den sie verdienen. Vorbilder sein – für zukünftige Generationen von Autor*innen.

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[1] Lindhoff, L. (2003). Einführung in die feministische Literaturtheorie (2., überarb. Aufl. ed.). Weimar: Stuttgart;            Metzler, S. 14.

[2] Lindhoff, L. (2003), S. 31.

[3] Vgl. Lindhoff, L. (2003), S. 52f.

[4] Vgl. Lindhoff, L. (2003), S. 53.

[5] Vgl. Lindhoff, L. (2003), S. 55.