Wofür stehen die Alphas
Teil 1 „Wie alles begann“
Es ist 2016 im frühen Sommer. Es ist der Sommer nach der Silvesternacht 15/16, die Zeit, in der Feminismus zu oft mit Rassismus begründet wird. Es ist der Sommer in dem das queerfeindlich und rassistisch motivierte Pulse Shooting in Orlando stattfindet. Der Sommer vor den „schwarzen Protesten“ in Polen, bei denen gegen das damals neue, verschärfte Abtreibungsgesetz demonstriert wir. Es ist der Sommer bevor der von Tarana Burke bereits 2006 geprägte Hashtag MeToo breite Aufmerksamkeit erfährt. Es ist der Sommer nachdem die ersten Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden. Es ist der Sommer nachdem auf der Grundlage von „Nein heißt nein“ das deutsche Sexualstrafrecht verschärft wird.
Es ist das Jahr in dem die Glamour Bono von U2 zum Woman of the Year kürt. Ja, richtig gelesen. Das Jahr von Alica Keys’ Make-Up-Verweigerung und Beyoncés „Lemonade“. Das Jahr in dem erstmals Hijabs auf einem Laufsteg der New York Fashion Week getragen werden. Das Jahr in dem Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewinnt und Hillary Clinton sie verliert. Es ist ein weiteres Jahr demonstrativen Lean-In-Feminismus’ und des Girl Power Narrativs. Es ist ein Jahr in dessen Verlauf SEHR oft der Satz „wir brauchen keinen Feminismus mehr“ fällt, ebenso wie „nichts darf man mehr sagen!“. Es ist drei Jahre nach #Aufschrei und noch viele Jahre, bevor wir Gleichstellung zwischen allen Geschlechtern sehen werden.
Nur als Kontext, wie so die Stimmung im Sommer 2016 ist.
Zu dieser Zeit habe ich noch weniger Ahnung von Poetry Slam (als aktuell) und organisiere dennoch ein kleines Poetry Slam Festival bei dem unter anderem Franziska Holzheimer auftritt. Nach einer wunderbaren Show mit Gebärdenpoesie, Musik, Spoken Word und Text-Zeichnen-Performance, hängen wir noch ein Weilchen rum. Franziska erzählt von ihrer Idee, einen feministischen Verein für deutschsprachige Poetry Slammerinnen (zu diesem Zeitpunkt spezifisch Frauen) zu gründen. Es soll ein Verein sein, der den unausgesprochenen Männerbünden im Poetry Slam ein Gegengewicht setzt. Ein Verein von weiblichen Vorbildern. Ein Verein, in dem die Erfahrungen, die zu diesem Zeitpunkt in der Poetry-Slam-Szene mehr Alltag als Ausnahme sind, besprochen werden und Betroffene sich austauschen können. Ziel war es einerseits als künstlerisch wertvoll und vertrauenswürdig wahrgenommene Poetry Slammerinnen miteinander zu vernetzen. Andererseits, Sichtbarkeit für Slammerinnen zu schaffen; um die zu dem Zeitpunkt oft rein männlichen Line-Ups auf und die patriarchale „Alpha-Bro-Culture“ zu durchbrechen. Auch daher der plakative Vereinsname.
Startpunkt des Vereins war also eine exklusive Schwesternschaft, um einen Gegenpol zu den unausgesprochenen, aber dominanten Männerbünden der Slam-Szene zu schaffen. Dass sich daran von mehr oder weniger allen Seiten Kritik aufgeworfen hat, ist wenig verwunderlich. Von zu Recht geäußerter Kritik an unnötiger Exklusivität, und vermeintlich autokratischer Vetternwirtschaft (Basenwirtschaft in diesem Fall?) über „das ist doch unnötig.“ bis hin zu klassisch anti-feministischen Vorwürfen à la „Ihr zerstört Poetry Slam“ und „Männerhass! Nicht alle Männer!“ war und ist bis heute fast alles dabei.
Auch deshalb ist es so spannend und schön, die Entwicklung der Slam Alphas mal ein wenig nachzuzeichnen. Denn auch wenn nicht immer gut mit konstruktiver Kritik umgegangen wurde, so hat sich der Verein Dank dieser Kritik doch über die Jahre seit der Gründung weiterentwickelt. Vieles davon lässt sich in der Entwicklung dieses Blogs gut nachvollziehen.
So öffnete der Verein seine Mitgliedschaften in 2018 für alle interessierten Frauen und Mädchen, zuvor war eine Empfehlung eines Mitglieds notwendig gewesen. Diese Öffnung war notwendig und hilfreich dabei, die Sichtbarkeit von insbesondere Frauen in der Slam Szene zu stärken. Auch die auf der Website bis heute existierende Karte verstärkte die Argumentationsgrundlage gegen „Es gibt halt keine Slammerinnen bei uns“-Bookings. Zeitgleich hat der Blog seit der Gründung des Vereins empowert (z. B. Selbstfürsorge und Gagen verhandeln), Diskussionen angestoßen (Wer kriegt eigentlich welche bezahlten Jobs?) und sichtbar gemacht, was in cis männlich dominierten Strukturen zu oft unsichtbar bleibt (Menstruation auf Tour beispielsweise).
Eine weitere Entwicklung der Slam Alphas wurde ebenfalls durch eine Mischung aus Kritik und einem Blogbeitrag angestoßen: die Öffnung für alle von patriarchaler Gewalt betroffenen Geschlechter. Die Diskussionen starteten bereits in 2019 und seit Anfang 2021 sind die Slam Alphas nun auch laut Statuten ein Verein für intersektional feministische Anliegen im Poetry Slam in dem alle cis und trans* Frauen, inter*, nicht-binäre, allgemein trans* Personen und ageschlechtliche Personen aktive Mitglieder werden und sein können. Diese Öffnung war so notwendig wie umstritten. Der Diskurs um die Zugehörigkeit von trans* Personen wird bis heute in feministischen Kontexten geführt. Oft leider mit Feindlichkeit und Abwertungen verbunden, anstatt mit Hoffnung auf echte Gleichstellung und Solidarität zwischen allen Geschlechtern.
Es ist diese Solidarität und der Hunger auf echte Gleichstellung, die auch die Grundlage für den bis heute vermutlich sichtbarsten Meilenstein der Slam Alphas legen: die Ende 2019 gestartete #SafeSpace Kampagne.
Im Sommer 2019 ging ein sichtbarer Ruck durch die Slam-Szene, als einige Personen öffentlich machten, was sie hinter Slam-Bühnen durch Mitglieder ‚ihrer Slamily‘ erleben mussten. Wie im Laufe des Textes schon angeklungen, war die Existenz von Übergriffigkeiten und sexualisierter Gewalt in der Slam-Szene ein schlecht gehütetes Geheimnis, von dem insbesondere mutmaßliche Täter und deren Freund*innen nichts wissen wollten. Ich nutze den generischen Maskulin hier nicht aus Gehässigkeit, zur Meinungsbildung oder als allgemeine Wahrheitsbeschreibung, sondern weil er derzeit den – meiner Kenntnis nach – juristisch angezeigten Tatsachen entspricht. Alle Geschlechter können Täter*innen werden oder sein und #SafeSpace will nicht nur Betroffene von Männern unterstützen. Ziel der #SafeSpace Kampagne war und ist es vielmehr, Betroffenen dabei zu helfen, eine Entscheidung für oder gegen eine Anzeige ihre*r mutmaßlichen Täter*innen ein bisschen unabhängiger ihrer finanziellen Lage treffen zu können. Mit dem jeweils geltenden patriarchal geprägten Sexualstrafrecht, zeitlichen und psychischen Kapazitäten sowie Nachwirkungen von Anzeigen haben Betroffene bis heute genug zu tun, da müssen nicht auch noch eventuelle Verfahrenskosten die Entscheidung für oder gegen eine Anzeige erschweren. Dank großer Solidarität in und um die Slam-Szene konnten und können mit dieser Kampagne mehrere Personen auf ihrem Weg begleitet und unterstützt werden. Weder die #SafeSpace Kampagne noch die Unterstützung Betroffener sind bis jetzt abgeschlossen, oder werden es in nächster Zeit sein. Die Slam-Szene hat ein anhaltendes Problem mit patriarchaler und z. T. sexualisierter Gewalt.
Es ist nicht lang her, da sagte ein befreundeter Slammer zu mir, er wisse nicht genau, wofür es die Slam Alphas heute noch brauche. Und erst wollte ich ihm zustimmen, da die Slam-Szene sich auch dank der Slam Alphas stark entwickelt hat. Manche munkeln sogar, dass die Tatsache, dass auf deutschsprachigen Slam-Bühnen nun oft geschlechtersensibel moderiert wird, auch zu guten Teilen der Existenz der Slam Alphas geschuldet sei.
Doch geschlechtersensible Sprache und eine anhaltende #SafeSpace Kampagne haben leider nicht alle patriarchalen Probleme der Poetry-Slam-Szene gelöst. Ja, cis Frauen sind jetzt sichtbarer als vor fünf Jahren, aber mehr Geschlechter werden marginalisiert als nur cis Frauen. Insbesondere, wenn diese Geschlechter auch noch z. B. Rassismus, Anti-Semitismus, Islamfeindlichkeit, Klassismus oder Behindertenfeindlichkeit ausgesetzt sind. Konsens ist noch zu oft nicht die Regel. Achtsames Booking, sichere Unterbringung und gerechte Bezahlung ebenfalls. Auch Solidarität, konstruktive Kritik und Reflexion könnten innerhalb der Szene durchaus einen höheren Stellenwert haben. Es fehlt noch eine Sensibilität dafür, wer auf unseren Bühnen und in unseren Backstages fehlt und warum.
Natürlich ist das nicht nur ein Problem der Slam-Szene, aber eben AUCH.
Dieser Verein kann Teil einer Lösung oder wenigstens Verbesserung sein. Das mag nicht allen einleuchten oder gar passen, aber das hat unsere Vereinsgründung auch nicht. Wir arbeiten an einer vielfältigeren, solidarischeren und offeneren Slam-Szene, auch wenn uns das weiterhin beliebt unbeliebt macht.
// ein großes Danke an unsere ehemalige erste Vorsitzende Fee, die viele meiner vereinshistorischen Wissenslücken gefüllt hat.