19. August 2024

Wie geschlechter-inklusiv ist der Zugang zu unserer größten Bühne?

Redaktion

Das Startendenfeld der deutschsprachigen Meister*innenschaften – wie geschlechter-inklusiv ist der Zugang zu unserer größten Bühne?

geschrieben von Inke Sommerlang und Yannik Sellmann

„Hast du schon einen Startplatz?“ – „Schickt dich jemand?“ – „Ich brauch noch einen guten Text fürs Jahresfinale, das ist meine letzte Chance auf die Landesmeister*innenschaft“

Jetzt gerade werden diese Gespräche in Backstages wieder häufiger. Die einzelnen Länder fangen an mit Meister*innenschaften, dort winkt die Chance auf den SLAM! 2024 in Bielefeld.

Für einige ist das eine der spannendsten Phasen im Jahr: Man sammelt die stärksten Texte, performt unter hohem Druck auf Veranstaltungen wie Saisonfinals und Landesmeister*innenschaften und wenn man es schafft, winkt der Auftritt bei den deutschsprachigen Meister*innenschaften: Nochmals Texte verfeinern, bis zur Perfektion üben und dann unter den Augen der ganzen Szene performen. Wenn der Startplatz passt und der Auftritt richtig knallt, kann es bis ins Finale gehen – im Burgtheater, der Starlight Express Arena oder im Tempodrom vor Tausenden von Menschen.

Ein Auftritt bei den deutschsprachigen Meister*innenschaften im Poetry Slam ist für viele in der Szene immer noch, bei allem Druck, den das mit sich bringt, eines der erstrebenswertesten Ziele in der persönlichen Slam-Karriere.

Wäre es dann nicht auch erstrebenswert, dafür zu sorgen, dass der Zugang zu diesem Erlebnis fair ist? Dass alle slammenden Personen durch Hervortun in der lokalen Szene, Erfolg im Wettbewerb oder eine textlich starke Saison die gleichen Chancen haben, sich auf der großen Bühne der deutschsprachigen Meister*innenschaften präsentieren zu können?

Dass diese Fairness jahrelang nicht existierte und was das für unseren Umgang mit dem Thema „Startplatz für den SLAM!“ bedeutet, haben wir, Inke Sommerlang und Yannik Sellmann, versucht durch Präsentationen in bei den letzten Meister*innenschaften in Wien und Bochum zu kommunizieren. Und zwar mithilfe von Zahlen. Wir haben uns die Namen aller Startenden seit 2013 geben lassen und uns bezogen auf das Geschlecht der Startenden zwei Fragen gestellt:

  1. Wie ist das Verhältnis von startenden FLINTA* Personen zu cis männlichen Personen?
  2. Wie stellt sich das Geschlechterverhältnis dar, je häufiger Personen gestartet sind?

Unsere Ergebnisse

Unsere erste und wichtigste Erkenntnis ist, dass unsere Auswertung allenfalls eine Tendenz, nicht aber die Realität abbilden kann. Denn unsere Datengrundlage bestand lediglich aus Namen der Startenden, Angaben zum Geschlecht oder Pronomen wurden es erst ab dem Jahr 2022 mit erhoben.

Wir haben die Kategorisierung mit aller Gewissenhaftigkeit, die uns möglich war, durchgeführt, können und wollen aber keinen Anspruch auf 100%ige Korrektheit erheben.

Die Tendenz halten wir aber dennoch für berichtenswert.

Frage 1 ließ sich leicht beantworten. Von 2013 bis 2017 war die Anzahl der FLINTA* Personen unter den Startenden unter 30 Prozent, von 2018 bis 2021 zwischen 38 und 46 Prozent.

Diese Grafik zeigt Startplätze, die an vermeintlich FLINTA+ Personen gingen innerhalb der Jahre 2013 bis 2021. Es ist ein leichter Anstieg zu beobachten, der 2021 wieder leicht sinkt.

Bei den Meister*innenschaften in Wien 2022 und Bochum 2023 arbeiteten wir wie gesagt mit den angegebenen Pronomen. Die Veränderung im Starter*innenfeld ist deutlich erkennbar.

Grafik zeigt genutzte Pronomen der Startenden in Wien 2022. Von 110 Startenden, nutzen 49 Startende sie/ihr Pronomen, 50 nutzen er/ihm Pronomen.

die Grafik zeigt die genutzten Pronomen der Startenden in Bochum 2023. Über die Hälfte der Startenden nutzt sie/ihr Pronomen (43/79), ein weiterer großer Teil nutzt er/ihm Pronomen (23/79).

Ebenfalls interessant war auch die Antwort auf Frage 2: Der Anteil an FLINTA* Personen im Zeitraum von 2013-2021 sank mit der Anzahl der Startplätze, die auf ein und dieselbe Person entfielen.

Die Grafik zeigt der Anteil an FLINTA* Personen im Zeitraum von 2013-2021 sank mit der Anzahl der Startplätze, die auf ein und dieselbe Person entfielen.

Auch hier lässt sich anmerken, dass die Jahre von 2013-2017, in denen nachweislich insgesamt weniger FLINTA* Personen im Startendenfeld vertreten waren, einen Einfluss auf die Darstellung in dieser Grafik haben. Aber auch wenn man sich nur die Jahre von 2018-2021 anschaut, sieht man, dass auch hier nur circa halb so viele FLINTA* Personen in diesem Zeitraum zweimal starten.

Die Grafik zeigt die im oben stehenden Absatz beschriebene Entwicklung.

Was sagen uns diese Ergebnisse?

Die Ergebnisse sagen in der Tendenz vor allem eines aus: Von 2013 – 2021 sind vermeintlich cis männliche Personen häufiger gestartet und auch häufiger mehrmals gestartet. Mehr gibt der Datensatz nicht her, aber das ist ja schon mal einiges.

Denn es bestätigt ein Gefühl, dass viele FLINTA* Personen jahrelang hatten:

Warum darf Udo eigentlich zum dritten Mal in Folge Ende Oktober mitmischen und ich nicht?

Warum war Yannik seit seinem ersten Slamjahr immer bei den großen Meister*innenschaften gesetzt, während Inke, die im gleichen Zeitraum genauso zahl- und erfolgreich an Slams teilnahm, ständig nur als Helferin zu den Meister*innenschaften fuhr?

Warum waren FLINTA* Personen jahrelang unterrepräsentiert auf der größten Bühne, die wir haben?

“Weil es ja damals auch insgesamt viel weniger FLINTA* Personen in der Slam Szene gab!” Diese Antwort haben wir in den letzten Jahren sehr oft gehört.

Dies gibt unsere Datengrundlage natürlich nicht her und nachträglich das Geschlechterverhältnis in der gesamten deutschsprachigen Slamszene erheben zu wollen, gleicht einem Fass ohne Boden. Aus Erfahrungsberichten langjähriger Slampersonen und Veranstalter*innen können wir aber annehmen, dass früher tatsächlich weniger FLINTA* Personen in der Slamszene aktiv waren. Aber selbst wenn dem so ist, ist das nicht einfach eine Facette desselben Problems? Denn es ist nicht davon auszugehen, dass vor 10 Jahren einfach weniger FLINTA* Personen Bock auf Poetry Slam hatten, bzw. ist nicht davon auszugehen, dass das an dem mangelnden Interesse an der Kunst bei FLINTA* Personen lag, sondern an den Umständen und Hürden, denen FLINTA* Personen in der Slamszene begegneten.

Die gute Nachricht

Daten aus Wien und Bochum belegen eindeutig: Es hat sich was verändert. Heute ist der Anteil an FLINTA* Personen im Starter*innenfeld sehr viel stärker ausgeprägt. Und auch die Änderung des Nominierungsverfahrens, nach dem man sich hauptsächlich über die Platzierung bei einer Landesmeister*innenschaft qualifizieren konnte, anstatt von ausgewählten Slams nominiert zu werden, änderte daran nichts. Wir haben in Bochum ein paar Beispiele genannt, die mutmaßlich zu der Entwicklung im Startendenfeld beigetragen haben:

  • mehr nicht cis männliche Identifikationsmöglichkeiten auf Bühnen
  • mehr Aufmerksamkeit für Geschlechterdiversität in Line-Ups
  • Mehr Nachfrage nach Safer Spaces für diskriminierte Personen

Veränderung ist also möglich. Aber nur, und das war uns ganz wichtig, wenn wir die deutschsprachigen Meister*innenschaften als das verstehen, was es neben dem Wettbewerb sind: Die größte Bühne, die wir haben. Mit allen Konsequenzen – man kann sich zeigen, es winken Auftrittsmöglichkeiten und damit Einnahmen, man kann sich vernetzen, für eigene Veranstaltungen werben usw.

Und wie es bei allen anderen Bühnen essentiell ist, den Platz auf der Bühne fair zu verteilen, sollte uns das auch bei der größten Bühne ein besonderes Anliegen sein – im Wettbewerb, in der Moderation und bei den Featured Artists. Aber dazu gehört auch (nicht ausschließlich, aber auch), kritisch den Raum zu hinterfragen, den man selbst bisher in diesem Wettbewerb eingenommen hat/einnehmen konnte und wie sehr eine erneute Teilnahme zur eigenen Sichtbarkeit beiträgt     .

Wie geht es weiter?

Eins wird klar: Wir brauchen mehr Daten. Denn die Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit ist erst der Anfang. Wenn wir uns aber z.B. datenbasiert anschauen wollen, wie weiß und bürgerlich unsere Szene wirklich ist, brauchen wir dafür eine Grundlage.

Wir glauben, dass unser Ansatz, zu einzelnen Erfahrungswerten und Eindrücken Zahlen dazu zu holen, weiterhin Potential hat. Aber er braucht eben auch mehr als das wackelige Fundament der Namenslisten, das wir zu Rate gezogen haben.

Wir denken da vor allem an repräsentative Umfragen innerhalb der Szene und haben erste Ideen. Aber wir sind beide auch ehrlich: Wir sind etwas ausgelaugt von all dem.

Eine ehrliche Rückschau

Wir haben uns der aufkommenden Kritik in den letzten Monaten und Jahren gestellt und das zurecht. Es gab Kritik an der Datengrundlage, die wir absolut teilen. Lösungs- und Verbesserungsansätze haben wir begrüßt und wir würden uns auch in Zukunft freuen, wenn sich Menschen finden würden, die Interesse daran haben, die Datenbasis zu verbessern, bzw. herzustellen.

Aber was uns Energie zieht, ist, dass einige Personen das Aussprechen von systemischer Kritik persönlich nehmen. Wir können das emotional nachvollziehen und es kann uns natürlich nur bedingt gelingen, Kritik an einer Struktur, in der wir alle als Personen existieren, von den einzelnen Personen zu trennen. Auch wir möchten nicht behaupten, dass wir das in jedem Gespräch immer hinbekommen haben. Trotzdem, oder gerade deshalb möchten wir eines sagen: Wir wollen für niemanden entscheiden, wie oft die eine Person starten darf und ob es nächstes Jahr nochmal “okay” wäre. Und eine strukturelle Kritik kann und soll auch nicht die individuellen und emotionalen Faktoren ausradieren, die für eine Teilnahme am Wettbewerb sprechen.

Wir hörten auch von dem Vorwurf, dass wir allen ein schlechtes Gewissen machen wollen. Und ja, das kann man wahrscheinlich gar nicht verhindern, wenn man Ungleichgewichte anspricht und damit Menschen unweigerlich in die Situation bringt, sich und die eigene Position innerhalb eines Systems betrachten zu müssen.

Bei unseren Präsentationen beim SLAM22 in Wien und SLAM23 in Bochum, war es uns wichtig, zu zweit vor allen zu stehen, als eine Person, die jahrelang von dieser Struktur profitiert hat, ohne es zu bemerken, und eine Person, die jahrelang durch dieses Raster gefallen ist, um genau das zu zeigen: Dass Menschen, die an unterschiedlichen Stellen in diesem System stehen/standen, gemeinsam darüber nachdenken für das gleiche einstehen können.

Unser Appell ging natürlich nicht nur an das System, sondern auch an die Eigenverantwortung und uns war bewusst, dass es nicht durchweg angenehm wird, das Gesicht für diese Botschaft zu sein und dass wir damit gegen unser menschliches Bedürfnis arbeiten, von allen gemocht und angenommen werden. Trotzdem wollten wir es ansprechen, weil auch die positiven die Entwicklungen in unserer Szene nicht von selbst gekommen sind, sondern weil Kritik laut geworden ist und viele am Ende doch hingehört haben und ihre Konsequenzen daraus gezogen haben. Und nur, wenn wir uns immer wieder bewusst machen, wie weit wir bisher gekommen sind und wo wir noch hinwollen, können wir auch bewahren, was wir schon erreicht haben.

In diesem Sinne: Es ist noch viel zu tun. Wir würden uns freuen, wenn unsere Präsentationen ein Aufschlag sein könnten, in der Szene mehr Daten zu erheben, um Und ja, sich mit Ungerechtigkeit auseinander zu setzen ist anstrengend. Aber wenn dies zu einer gleichberechtigteren Sichtbarkeit beiträgt, plädieren wir dafür, diese Anstrengung als Szene weiterhin auf uns zu nehmen.

 

Grafiken sind von Inke Sommerlang und Yannik Sellmann erstellt; Beitragsfoto von Annette Flemig