19. Dezember 2016

Warum Alpha?

Hallo, ich bin Leonie. Ich bin 25 Jahre alt und seit 2012 Slammerin. Gar nicht mal so lang, mag man sich jetzt denken – aber aufgrund exzessiver Tourerei reichen diese vier Jahre aus, um sich einen guten Einblick in die Szene zu verschaffen. Sie reichen aus, um zu erkennen, warum es ein Projekt wie Slam Alphas braucht. Aber fangen wir beim Fundament an. Bei mir.

Ich gehöre zu den Slammerinnen, die von Anfang an wenige Probleme in der Szene hatten. Klar, auch ich war zunächst unsicher und habe ständig nervös an Bier-Etiketten geknibbelt. Außerdem war ich immer ein bisschen neidisch auf diese coolen, gestylten Boy-Gangs, die so lässig ihre Flaschen am Kasten öffneten. Zum Glück habe ich aber bald gemerkt, dass ich mich auch ohne Penis und dafür mithilfe meiner dreckigen Lache in diese Gangs hinein schummeln konnte.

Ich hatte meinen ersten Slam-Auftritt in Kiel, bin dann für einige Wochen nach Nordrhein-Westfalen gezogen und fand schließlich in Göttingen meinen ersten richtigen „Homeslam“, also einen Slam in meiner Stadt, bei dem ich regelmäßig auf die Bühne gelassen wurde. Ich war unfassbar whack und wurde trotzdem gefördert, Geschlecht hin oder her. Ich wurde vom Moderator auf meine erste kleine Tour eingeladen, ich wurde Menschen vorgestellt, durfte immer wieder auftreten, mich ausprobieren, meinen Stil finden – ohne dabei jemals an Erfolg denken zu müssen. Denn die erste Lektion in meinem Slam-Aufbaukurs lautete: Scheiß auf den Wettbewerb. So lernte ich bald, dass es wesentlich entspannter ist, mit Bier und guten Leuten im Backstage zu lümmeln, als sich allzu sehr um die Punkte zu kümmern. S/O to all the Slam-Papas and –Mamas.

Irgendwie passte ich wohl einfach gut rein: Ich bin aufgeschlossen, extrovertiert, laut und ich trinke gerne. Perfekt geeignet also für eine selbstdarstellerische Existenz auf Bühnen. Ich wurde respektiert, nicht einfach angefasst und immer höflich gefragt, bevor ich wild geküsst wurde. Ich hatte lange Nächte, tolle Gespräche und habe gemerkt, dass auch die coolste Boy-Gang manchmal einfach bloß den Nacken gekrault bekommen möchte.

Die whacken Jahre sind vorbei

Inzwischen lebe und arbeite ich in Leipzig und habe dort einen tollen Verein (www.livelyrix.de) gefunden, der mir viel Raum gibt, um mich auszuprobieren und meinen Platz auf der Bühne zu finden. Ich arbeite mit fantastischen Männern* und Frauen* zusammen. Bei einem Mann fällt mir auf, wie er sich schrittweise sensibilisiert. Einfach, weil ich an seiner Seite arbeite und er merkt: „Wenn etwas für Leonie nicht cool ist, ist es vermutlich für andere Frauen auch nicht cool. Das will ich nicht. Das änder’ ich.“

Denn natürlich wacht niemand eines Morgens auf und ist begeisterte_r Feminist_in. Es ist ein Prozess, für den man manchmal etwas Starthilfe braucht oder eine Freundin, die nicht an kritischen Seitenblicken spart.

Inzwischen moderiere ich sogar eigene Slams und booke Poet_innen für eine Tour. Dabei versuche ich immer mindestens zwei Frauen* einzuladen. Nicht aufgrund einer Quote, sondern weil es geil ist, ein Girl dabei zu haben. Glaubt mir, ich spreche aus Erfahrung. Wegen Schminke und Zöpfe flechten, ihr wisst.

Zusammen mit vier Slammerinnen habe ich sogar eine WhatsApp-Gruppe, da wir uns aufgrund geographischer Schwierigkeiten leider nicht jeden Abend zum Weintrinken verabreden können, auch wenn ich nichts lieber täte. Diese Peer-Group bestärkt mich, hört mir zu, motiviert mich, spornt mich an, bringt mich weiter und gibt mir Halt. All das hätte ich ohne diese wundervoll chaotische Szene niemals gefunden. Ich habe gehört, dass andere Slammerinnen inzwischen auch solche Gruppen haben. Ich liebe diese Entwicklung. Weil so junge Mädchen sehen: „Oha, es gibt nicht nur coole Boygangs, sondern auch coole Gilgangs – und die sind auch noch besser angezogen als die Spice Girls! Jackpot!“

Was ich damit sagen will: Ihr dürft natürlich eine von den Jungs sein, aber es ist nicht weniger cool, eine von den Mädchen zu sein.

Vorbilder schaffen und Raum einnehmen

Aufgrund meiner Arbeit und meines aktiven Einsatzes für Frauen* gibt es inzwischen Männer*, die mich hassen. Weil ich sie aufgrund von Übergriffen oder bestimmten Aussagen verurteile und nicht mehr zu meinen Slams einlade. Das ist das Los, das man zieht, sobald man mit einer bewussten Haltung in die Öffentlichkeit tritt. Das ist okay. Ich nehme es gern in Kauf, wenn ich sehe, was, oder vielmehr wen, ich dafür mit diesem Bisschen Engagement und Unterstützung erreiche. Ein bisschen mehr Vorbild sein; zeigen, dass es auch anders geht. Raus aus der Schublade und rein ins verdammte Rampenlicht.

Denn da gibt es junge Mädchen*, die zu mir und anderen Slammerinnen aufschauen, Mädchen*, die sagen: „Ich dachte, Frauen* müssten immer Lyrik machen. Das sagt mir zumindest YouTube. Aber du zeigst mir, dass ich auch laut, derbe und vulgär sein darf. Das finde ich ziemlich cool, das passt viel besser zu mir. Danke für’s Vorbildsein. Danke für deine Präsenz.“ Genauso dachte ich selbst vor einigen Jahren erst einmal: die Typen sind die Lustigen hier. Frausein auf der Bühne hieß für mich ausnahmslos: Ernst, Sprachschönheit, Bildstärke, Lyrik. Zum einen, weil ich es nicht besser wusste. Zum anderen, weil Frauen auf der Bühne oft eine gewisse Vielfalt abgesprochen wird. Das liegt zum Großteil am Publikum, das leider noch immer zu oft denkt (und sagt!): „Naja, für ne Frau* ganz lustig. Aber den mit dem Bart, den find’ ich besser.“

Ich will, dass die nächste Generation es einfacher hat. Das so eine Nebensächlichkeit wie Geschlecht egal für den Erfolg wird und niemand mehr als Quoten-Frau* eingeladen wird.

Was wir also brauchen? Raum, meine Damen und Herren, mehr Raum! Für die Lyrikerinnen, die Rapperinnen, die Spoken Word-Poetinnen, die Sprücheklopferinnen und Pointenraketen.

„Hey , ich bin Leonie“

Mein Anliegen innerhalb dieses Projektes ist kein IHR DÜRFT ALLE NUR NOCH FRAUEN BUCHEN AUS PRINZIP! Es ist so viel mehr. Es ist ein:

„Hey, bist du neu hier? Ich bin Leonie. Schön, dass du bei unserem Slam bist. Lass dich ja nicht doof von der Seite anquatschen und dir von niemandem erzählen, dass du eine Schlampe bist, wenn du nachher besoffen auf der Aftershow knutschst. Hab ich auch gemacht. Ich bin da. Ja, auch als Frau darfst du eine „Rampensau“ sein. Ja, es gibt mehr talentierte Frauen als zwei bis drei Ausnahmen. Ja, hier unten darf man rauchen. Die sind alle ganz nett, komm einfach mit mir und setz’ dich dazu. Die Insider erklär ich dir alle später. Wenn du irgendwas nicht willst, sag das. Das können die ab. Und nachher gehen wir alle noch einen trinken, hilft ja nüscht.“

Ja, ich kann die Sprüche ab. Ich kann austeilen und einstecken und wenn du dich wie ein Arschloch verhältst, dann sag ich dir das auch. Du magst mich dafür? Danke, ich mich auch.

Aber wisst ihr, nicht alle Mädchen* und Frauen* sind so wie ich. Nicht alle haben ein von den harten Straßen Gelsenkirchens gehärtetes Fell. Es gibt ganz schön viele da draußen, die von euch, von uns, vermutlich auch manchmal von mir, eingeschüchtert sind. Die sich nicht trauen, etwas zu sagen. Weil sie zu wenige Vorbilder haben, weil sie nicht an die Hand genommen werden. Weil sie manchmal erst lernen müssen, dass man zurück beißen muss. Und darf.

Mädchen*, die immer nur mit den coolen Boys (ja, fühlt euch ruhig angesprochen) im Backstage sitzen, hin- und hergerissen zwischen „Die sind mir alle scheißegal“ und „Ich möchte so gerne dazu gehören, aber weiß nicht wie.“
Ich spreche da aus Erfahrung. Denn genauso saß ich da in den Backstages, mein Bier verschüchtert in der verschwitzten Hand und darauf bedacht, möglichst lässig rüberzukommen. Und wir wissen alle, wie wenig lässig man dabei wirkt.

Es wird immer Menschen geben, die mit Slam Alphas nichts anfangen können. Das ist okay und lässt sich weder durch mich noch durch diesen Eintrag ändern. Aber solange mir Menschen sagen, dass ich ja „ganz schön frech auf der Bühne sei“, müssen wir daran arbeiten, Raum zu schaffen. Um ein vielfältigeres Bild von Frauen* auf der Bühne entwerfen zu können, bis es in alle Köpfe eingehämmert wurde. Das alles will ich nicht auf Kosten von Männern* tun, sondern mit ihrer Hilfe. Ohne euch geht es nicht und das will ja auch niemand. Es ist viel schöner, wenn ihr mit uns an Bord seid. Rudern ist immerhin auch Teamsport.

In diesem Sinne, Prost und liebe Grüße,

Leonie