Slammen – ein anderes Selbstbewusstsein
Meine Eltern haben sich bemüht, mich genderneutral zu erziehen. Der Rest der Gesellschaft hat mir als Kind und Teenager dennoch etwas anderes beigebracht. Poetry Slam hat mir geholfen, Angelerntes wieder zu vergessen und mich selber in völlig neuem Licht zu sehen.
Ich bin eines der vielen Millennial-Kinder, die bei einem Bier mit Freunden gerne mal verkünden: „Ich hatte als Kind nicht nur Barbies, sondern auch Lego Technik!“, um sich dann das anerkennende Nicken der Runde einzuholen. Es ist schön, dass mich meine Eltern nicht nur in rosa Spitzenkleider gesteckt haben. Die Realität ist aber nun mal, dass ich sie mir dann eben heimlich gewünscht und andere Mädchen um sie beneidet habe.
“Outside the Box” ist immer noch innerhalb der Gesellschaft
Denn allen Bemühungen zum Trotz: In unserer Gesellschaft kann man junge Mädchen nicht vor den vorherrschenden Rollenklischees schützen. Die Werbung sagte mir, ich solle mit Schminksets und Kinderküchen spielen. In Büchern waren Jungs die Starken und Wilden, während Mädchen nicht über die Rolle des vorsichtigen Sidekicks oder Love-Interests hinaus kamen. Wohl am prägendsten aber waren für mich Bravo Girl und Konsorten. Zeitschriften, die präpubertierende Mädchen erklären, wie sie Jungs am besten gefallen (‘Kichere über seine Witze, aber lache nicht ordinär!’), wie sie sich anzuziehen und zu schminken haben (‘Style dich sexy, aber sei nicht slutty’) und wie zu flirten ( ‘Er mag es, wenn sie süß von unten zu ihm hoch sieht’).
Ich wusste, dass meine Eltern diese Zeitschriften nicht gutheißen, daher las ich sie heimlich bei Freundinnen. Als Teenager ist eben nichts wichtiger als dazuzugehören. Um bei den coolen Mädchen en vogue zu sein, waren diese Lektüren Pflicht. Wie sonst hätte man mitreden können, ob Lukas jetzt tatsächlich mit Nora knutschen will, immerhin hat er sie aus seiner Wasserflasche trinken lassen!
“Wie gefalle ich am besten?” wird zur wichtigsten Frage
Auch als ich älter wurde blieb für mich eine Frage am wichtigsten: Wie kann ich am besten gefallen? Und so geschah es auch, dass ich mir vor allem aus Komplimenten von Jungs und gelungenen Knutschereien mit John aus der 10B mein Ego heranzüchtete. Es war mir wichtig als „sexy“ zu gelten, es war mir wichtig „fuckable“ zu sein, es war mir wichtig zu gefallen. Bekam ich Komplimente wie: „Du bist interessant“, verdrehte ich die Augen bis in den Hinterkopf, wenn ich es später meinen „Mädels“ erzählte.
Aussehen ist, was Frauen wertvoll macht
Dabei war ich eigentlich schon immer tougher, lauter und hatte gefühlt mehr „Fuck-it“ Attitüde als die meisten Mädchen in meiner näheren Umgebung. Ich wollte nicht nur das sweete Girl für die Jungs sein. Ich wusste auch, dass ich etwas hatte, das man als „schwierigen“ oder nett ausgedrückt „interessanten“ Charakter bezeichnen würde. Aber noch bis ich Anfang 20 war, schob ich jegliches Interesse an meiner Person ausschließlich auf mein Aussehen und meine peniblen Schmink-Skills. Wenn man mich als clever, witzig oder – Gott bewahre – intelligent bezeichnete, tat ich das ab. Mein Selbstbewusstsein zog ich konsequent aus Komplimenten zu meinem Äußeren, denn – so hatte sich das eingebrannt – das ist, was Frauen wertvoll macht. Auch aufgrund einiger Studienabbrüche und -Wechsel stand für mich nie zur Debatte, dass ich irgendetwas ernsthaft „kann“. Das änderte sich erst, als ich mit 22 meinen ersten Slam-Auftritt hatte.
Beim Slam zählt dein Text, nicht dein Outfit
Poetry Slam gab mir auf ganz eigene Art und Weise neues Selbstbewusstsein. Beim Slam ist es scheiß egal, wie gut deine Schmink-Skills sind. Nobody fucking cares, ob dein Pulli der heißeste Scheiß ist. Was zählt, ist dein Text. Das Publikum hat mich noch nie zur Siegerin erkoren, weil meine Brüsten wohlgeformt sind oder meinen Kleid eng sitzt. Durch Poetry Slam habe ich gelernt, dass man mich völlig unabhängig von meinem Aussehen toll finden kann. Rasieren kannst du nur mit deinem Text und deiner Stimme. Hinzu kamen all die Frauen, die ich durchs Slammen kennengelernt habe. Alle inspirieren auf unterschiedliche Weise, alle sind auf ihre Art stark und beeindruckend. Meine Slam-Kolleginnen haben mir den Rücken gestärkt, mich unterstützt, mir geholfen. Und das haben sie nicht, weil ich ihnen Schminktipps gebe (na gut, manchmal schon, aber das zählt nicht), sondern weil ich auf und hinter der Bühne einen Charakter und etwas zu sagen habe.
Slam gibt dir ein neues Gefühl für dich selbst
Die Poetry Slam Szene hat es geschafft, mir wieder auszutreiben, was mir die Medien als Teenager vehement eingetrichtert haben: liebliche Zurücknahme, neckisches Bezirzen, gesellschaftskonforme Sexyness. Und das Publikum hat mich laut, vulgär und unverschämt sein lassen und danach trotzdem geklatscht. Nicht, weil ich hübsch anzusehen, sondern weil ich lustig bin. Das hat viel mit meiner Selbstwahrnehmung getan und mich auf eine ganz neue Art selbstbewusst werden lassen. Ich kann etwas. Ich kann Leute unterhalten, mit meiner Art, mit meinen Texten, nicht mit meinem Aussehen.
Im Übrigen werde ich mich natürlich weiterhin übertrieben schminken und mich in enge Kleider quetschen. Das mag ich nämlich immer noch, einfach weil es mir Spaß macht – und nicht, weil ich dann besser gefalle.