5. August 2019

Nicht noch ein Befindlichkeitstext

 

„Am Anfang konnte ich mit deinen Texten nichts anfangen, da hattest du immer diese Säuselstimme“

„Nicht noch ein Text von einer Frau über Befindlichkeiten, wir müssen Systemkritik auf die Bühne bringen“

„Sie schreibt halt so typische Mädchenlyrik, aber den Begriff verwenden wir ja jetzt nicht mehr“

Sätze dieser Art sind mir in den letzten drei Jahren oft begegnet. Sie wurden zu mir gesagt, sie wurden zu anderen gesagt, die dann darüber sprachen, manchmal habe ich sie sogar selbst gedacht. All diesen und vielen weiteren Aussagen ist gemein, dass sie zutiefst misogyn sind. Dies ist ein Text über Mädchenlyrik, Befindlichkeitstexte, Sing-Sang im Duktus und die antifeministische Kritik daran.

 

Es braucht Befindlichkeitstexte zur Solidarisierung

„Nicht noch ein Befindlichkeitstext“ ist ein Satz, den ich nie wieder hören will. Spätestens seit #MeToo wird klar sein, dass Erfahrungsberichte sehr wohl eine gesellschaftliche Schlagkraft entwickeln können, eine politische Dimension, die Debatten erzeugt – und Karrieren beendet. Der Hashtag wurde innerhalb der ersten 24 Stunden 4,7 Millionen Mal auf Facebook geteilt. Jede einzelne Frau, die von ihrer Erfahrung berichtete, erhöhte die Relevanz und den Druck. Jede einzelne Frau, die auf der Bühne über Sexismus, Gewalt oder Abhängigkeitsbeziehungen spricht, hilft auch anderen.

Aber ganz unabhängig von der breiten Rezeption in der Gesellschaft waren und sind diese Erfahrungsberichte ein Akt der Befreiung und Emanzipation. Scham ist ein gesellschaftlich erzeugtes Gefühl und entsteht aus der Angst heraus, aus Gruppen ausgeschlossen zu werden. Sie dient dazu, dass Mitglieder sich klanglos wieder in die Gruppe einfügen. Frauen, die Sexismus und Gewalt erfahren haben, empfinden häufig Scham. Diese ist sehr funktional: das patriarchale System kann weiter bestehen, ohne dass Frauen über ihre Erfahrungen sprechen und sich solidarisieren. Jeder Text zu diesem Thema hilft, mit dieser Scham umzugehen und sie zu überwinden.

 

Es gibt einen Grund für Befindlichkeitstexte, den Männer nicht haben.

Als ich noch Philosophie studierte, sagte ein Kommilitone zu mir, dass gerade Frauen das „Problem“ hätten, häufig traurige Ich-Erzählungen zu schreiben. Menschen schreiben über ihre Erfahrungen. Frauen sind häufig mit ihrem traurigen Ich konfrontiert, das an Grenzen stößt. Der Kommilitone schien von diesen Erfahrungen, die nicht seine eigenen sind, nicht so gern zu hören. Dass die männlichen Literaturprofessoren Texte spannender finden, wenn sie von etwas berichten, das Bezug zu ihnen hat, ist mir klar. Geschichten über Helden, über politische Frustration, über eine spannungsgeladene Handlung, erleben im gesellschaftlichen wie literarischen Narrativ eben immer noch vermehrt Männer. Und eben diese Männer finden diese Geschichten interessant, denn: Es ist ihre Welt, von der da berichtet wird. Die Welt, in der sie das meiste erreichen können, was sie wollen und nicht an der gläsernen Decke scheitern. Die Welt, in der sie Zuhause nicht die Mehrheit der Arbeit leisten und im Beruf nicht belächelt werden. Übrigens auch die Welt derer, die die Feuilletons und Literaturkritiken schreiben.

 

Stil, Inhalte und Duktus werden unterschiedlich rezipiert

Liebe Männer, wir brauchen eure Systemkritik nicht, denn das können wir selbst sehr gut. Wir sind kluge, bedachte, wütende Wesen und stehen euch in Sachen Sprachgewalt in nichts nach. Ob wir genau so auch wahrgenommen werden, steht auf einem anderen Blatt. Treten wir als Frau auf die Bühne, werden wir immer auch als solche gelesen. Daran sind Erwartungshaltungen geknüpft, mit denen wir umgehen müssen. Der gleiche fragile, lyrische Text kann, je nach vortragender Person, sehr unterschiedlich rezipiert werden. Und plötzlich steht hinter dem gleichen Wort eine junge Frau mit Mädchenlyrik oder eben ein Mann, der Tiefe und Feingefühl beweist. Die Kritik an (weiblichen) Befindlichkeitstexten bedient genau diese Diskrepanz.

 

An die eigene Nase fassen

Habt ihr mal darüber nachgedacht, wieso ihr so dringend eine rationale Systemkritik wollt? Sind euch eventuell hoch emotionale Erzählungen unangenehm oder erzeugen Unsicherheit? Kritisiert ihr Identitätspolitik, weil es für euch längst selbstverständlich ist, euch frei entfalten zu können? Ist es vielleicht die eigene Sozialisation, die das rational-kluge als überlegen, weil männlich, ansieht? Reproduziert ihr dann nicht genauso die Rollenbilder wie wir? Wo sind eure Texte über psychische Gesundheit, Behinderung, Hautfarbe oder Alter, die nicht lustig / im Rap-Stil vorgetragen / unpersönlich sind? Die brauchen wir nämlich genauso, wie die weibliche Systemkritik. Befindlichkeitstexte auf weiblicher Seite und politische Kritik auf männlicher Seite entsprechen einer sexistischen Rollenverteilung. Wir brauchen Männer, die zugeben, dass sie Angst haben, die weinen, die über ihre „Befindlichkeiten“ sprechen. Fangt damit an, anstatt uns vorzuschreiben, auf welche Art wir etwas sagen sollen.

 

Eure feministischen Texte nehmen uns den Markt weg

„Endlich ein Mann, der auch über Feminismus spricht“, denken sich manche dankbar. Und: „Wie gut, den müssen wir unterstützen, mit dem können sich andere Männer identifizieren.“

Erstens zeigt dieser Gedanke ein sexistisches System: Wenn ein Mann über ein Thema spricht, erreicht es ein breiteres Publikum. Vor allem wird er für einen Text, für eine Analyse anerkannt, für die wir Frauen seit Jahrhunderten arbeiten. Ja, vielleicht ist eine präzise Stellungnahme heute auch von Männern möglich. Aber wessen theoretische Vorarbeit eignet ihr euch an?

Zweitens nehmt ihr uns damit Markt und Sichtbarkeit weg. Spätestens wenn ihr aufgrund eurer feministischen Texte zu Veranstaltungen eingeladen werdet (vor allem wenn es sich um bezahlte Auftritte handelt), drängt ihr euch damit vor uns in einen potenziellen Markt. Dann ermöglicht ihr es Veranstalter*innen, einen Mann für einen Job auszuwählen, den eine Frau mindestens (!!) genauso gut erfüllen kann. Tretet nicht bei Slams zum Thema Sexismus auf, ohne zu fragen, ob mindestens (!!) die Hälfte des Line-Ups weiblich ist. Das Gleiche gilt übrigens für alle weißen Personen, die Texte zum Thema Rassismus performen, alle jungen Personen, die Texte über das Alter schreiben und alle Menschen ohne Einschränkungen, die meinen, eine Perspektive literarisch erkunden zu können, die nicht ihre eigene ist. Diese Menschen, über die ihr da schreibt, können hervorragend für sich selbst sprechen! Wenn ihr euch wundert, wieso sie auf der Bühne so untervertreten sind, dann ladet sie ein und beginnt nicht, den Bedarf an thematisch passenden Texten selbst zu decken. Schreibt eure feministischen Texte, aber kapitalisiert sie nicht. Lasst denen den Vortritt, die aus Erfahrung sprechen.

Drittens solltet ihr keine Lorbeeren dafür erwarten, dass ihr etwas erkennt und anerkennt, das wir schon lange spüren. Schön, dass ihr Herrschaftsverhältnisse politisch analysieren könnt, aber für uns ist das tägliche Realität, während ihr euch aussuchen könnt, ob ihr euch damit auseinandersetzt. Wenn das Publikum euch dafür feiert: schön. Aber erwartet von uns kein Schulterklopfen am Ende eures Auftritts. Diese Haltung sollte selbstverständlich sein.

 

Und zuletzt:

Liebe Girl-Gang, ich hoffe, wir werden weiterhin unsere sensiblen, leisen, ernsten, dramatischen, sehnsüchtigen Texte schreiben. Lasst sie uns den „Systemkritikern“ um die Ohren hauen. Dass wir viel mehr können, ist uns allen klar. Es gibt so viele Texte von Slammerinnen, bei denen ich nicht anders konnte, als zu lachen. Bei denen ich nur Dankbarkeit für pointierte, kluge Aussage empfand. Wir sind kluge Frauen, lustige Frauen, ernste Frauen, wir können auf der Bühne alles sein. Wir dürfen auf der Bühne alles sein. Und dieses Recht nimmt uns niemand mehr weg.

 

 

Die Autorin hat sich dazu entschieden, in diesem Artikel keinen * hinter den Begriff „Frau“ zu setzen. Grund dafür ist dieser Artikel