Online Bühnenkunst
Auftrittsabsagen, Gagenausfälle, Ungewissheit – es ist für viele von uns eine schwierige Zeit. Als Künstler*innen stehen wir nicht im Mittelpunkt dieser Krise. Ich halte unsere Arbeit zwar für systemrelevant, aber selbstverständlich ist es richtig, dass Veranstaltungen momentan nicht stattfinden. Die Online-Angebote von Künstler*innen nehmen zu. Von Live-Streams über bunte Storys zu Patreon: es ist lauter geworden im Internet. Wie lässt sich das feministisch gestalten?
Soziale Netzwerke
Liveshows, Spendenaufrufe und Podcasts werden schwerpunktmäßig in sozialen Netzwerken beworben. Gerade ist besonders zu merken, wie viel Macht die eigenen Kanäle und ihre Reichweite haben.
Es gibt zahlreiche Dynamiken sozialer Netzwerke, die Personen bevorteilen oder benachteiligen. Am Beispiel von Instagram bedeutet das, dass ein größerer Erfolg (gemessen an der Follower*innenzahl) nur bedingt durch intensivere Arbeit zustande kommt. Andere Faktoren sind nach Hund (2017) etwa die Auswahl der Themen (genderkonform), das Alter (jung) und das Aussehen (westliche Schönheitsideale wie etwa ein trainierter Körper).
Durch User*innen, die diese Mechanismen zu hinterfragen wissen oder schlicht nach anderen Vorbildern und Persönlichkeiten suchen, lässt sich abseits dieser Kategorien natürlich ebenfalls ein beliebter Account aufbauen. Durch ein bewusstes oder unbewusstes Branding (zum Beispiel mit den Säulen Feminismus, Bühnenperformance und Inneneinrichtung) und durch kontinuierliches Posten kommen mitunter hohe Zahlen an Follower*innen zusammen. Doch egal, auf welche Art Reichweite zustande kommt: Sie braucht Zeit. Unsere Reichweite auf sozialen Netzwerken reflektiert also unser Engagement der letzten Jahre. Zum Beispiel die Anzahl der bespielten Bühnen – oder womöglich andere Schwerpunkte unseres Accounts, wie feministische Inhalte, private Einblicke oder humorvolle Tweets/Posts.
Die Krise hat für uns alle zum gleichen Zeitpunkt angefangen, aber wir starten mit unterschiedlichen Voraussetzungen in diese ungewisse Zeit. Damit meine ich nicht allein die Reichweite. Wer zum Spenden und Unterstützen auffordert, braucht nicht nur Follower*innen, sondern auch eine spezifische Form der Interaktion mit diesen. So fand Ohanian (1990) in einer Studie Eigenschaften, die besonders zum Spenden motivieren: Attraktivität, Vertrauenswürdigkeit und Expertise. Einer aktuelleren Studie zufolge (Schouten et al., 2020) führen die Faktoren Vertrauen, Identifikation und wahrgenommene Ähnlichkeit zu einer höheren Kaufbereitschaft. Hergestellt werden können diese Faktoren zum Beispiel durch eine anderweitig erzielte Bekanntheit (Konzerte), aber auch durch das Teilen von persönlichen Einblicken in das eigene Leben, sodass ein vermeintlicher Beziehungsaufbau möglich ist.
Weder Spenden, noch Reichweite bemessen sich also an Bedürftigkeit. Schön zu sehen an der unglaublichen Summe, die das Lumpenpack an einem einzigen Tag eingespielt hat. Die haben sie erhalten, weil sie bereits seit Jahren erfolgreich auf Bühnen unterwegs sind. Dasselbe Konzert hätte auf einem unbekannten Account selbstverständlich weniger Aufmerksamkeit erhalten. Das ist keine Kritik an Spendenaufrufen großer Künstler*innen per se, sondern soll aufzeigen, wie unterschiedliche Ausgangssituationen die Resonanz für Content bestimme.
Halten wir fest: Hinter den Accounts steckt (unbezahlte) Arbeit. Natürlich ist auch diese Arbeit schon ein Privileg. Jetzt, da wir alle zuhause sind und den gleichen Alltag verleben, treten Privilegien stärker zutage. Wer wohnt in der großen Wohnung mit hübschen Möbeln, wer hat Rücklagen, wer kann andere Menschen noch mit versorgen? Wer hat Zeit, Programme für das Internet zu entwerfen, wer hat die Reichweite, wer hat die Kraft?
Online-Slams
Bevor ich mit meinen Wünschen für Onlineangebote loslege, möchte ich klarstellen: Dieser Artikel soll keinen Druck aufbauen, Onlineangebote zu erstellen und ins Leben zu rufen. Wer die Zeit zuhause mit Selbstfürsorge, Tagen im Bett und Tiefkühlpommes verbringt, muss das nicht verstecken. Es ist eine außergewöhnliche Situation, in der niemand, wirklich niemand, produktiv werden muss. Weil wir aber eine umtriebige, motivierte Szene sind, hier einige Gedanken:
Online-Programme haben wichtige Vorteile, die zu einer geringeren Ungerechtigkeit beitragen können. Es freut mich, dass viele Programme damit barrierefreier werden. Es ist toll, dass jede*r mit einem mobilen Endgerät einschalten kann, egal ob zum Beispiel eine körperliche Einschränkung vorliegt (wer weiß, vielleicht kommen wir nach der ersten Gewöhnungszeit sogar noch dahin, Untertitel anzuzeigen) oder die finanziellen Mittel nicht für den Eintritt ausreichen würden.
Die Auswahl der Poet*innen wird währenddessen nicht unbedingt gerechter. Es ist eine simple Gleichung: Wen würde ich zu meinem ersten Online-Slam einladen? Natürlich Personen mit einer hohen Reichweite. Je mehr, desto besser. Denn je mehr Zuschauer*innen, desto mehr Spenden oder „Eintrittsgelder“ für den Stream. Mir ist vollkommen bewusst, dass es dabei um den Aufbau neuer Programme und um die eigene (veranstalterische) Existenzsicherung geht. Dadurch werden alte Machtungleichgewichte schlicht durch neue ersetzt. Das ist schade, gleichzeitig aber auch ein Potenzial.
Was folgt?
Wenn ich mir für die Zukunft etwas wünschen darf, dann, dass auch reichweitenbezogene Solidarität eintreten wird. Dass eine gute Mischung gefunden wird zwischen neuen Starter*innen, super Poet*innen mit kleiner Reichweite und reichweitenstarken Online-Persönlichkeiten.
Was ich an Slam so sehr liebe, ist, dass wir ein Kleinkunstformat sind, das keine großen Namen braucht. Meistens kommen die Menschen nicht für uns, sondern für die Show. Das ist toll für alle, die gerade erst anfangen, aber viel zu zeigen haben. Mein Wunsch: behalten wir die Liebe zum Format bei und setzen wir sie auch im Internet um. Auf privaten Kanälen ist dieses Prinzip nicht gewahrt: die Zuschauerzahlen kommen über die eigene Reichweite zusammen.
Bilden wir also Kanäle, die verschiedene Shows und Programme anbieten, sodass sich über diese zentralen Seiten die Aufmerksamkeit umverteilt. Dass das funktionieren kann, zeigen bereits Slam-Videos des Poetry-Slam-TV-Kanals, die auch ohne Bekanntheit der Auftretenden 5000 Klicks und mehr erzielen. Der Kanal selbst ist zur Marke geworden.
Lasst uns diese Idee ausweiten und ein vielseitiges Programm von ganzen Slams, einzelnen Videos, Podcasts, Lesebühnen und so vielem mehr anbieten. Viele potenzielle Zuschauer*innen lieben nicht nur einzelne Bühnenpoet*innen, sondern auch das Format. Bieten wir ihnen Plattformen dafür.
Damit meine ich nicht, dass sich privilegiertere Menschen aktuell mit ihren Online-Angeboten zurückhalten sollten, denn der Kulturbetrieb lebt von den großen und den kleinen Stimmen. Vielmehr wäre es wünschenswert, diese Privilegien zu nutzen, um Aufmerksamkeit umzuverteilen. Das geht zum Beispiel über die Partizipation reichweitenstarker Personen auf im Aufbau befindlichen Kanälen. Der Content eines solchen Kanals muss nicht vollständig von derselben Person / Organisation produziert sein. Wir alle profitieren bei Liveshows davon, denselben Text hundertmal auf verschiedenen Bühnen vorlesen zu können. Genauso könnten wir dasselbe Video auf unserem Kanal hochladen, es aber auch Anderen zur Verfügung stellen. Ich schreibe diese Zeilen nicht in den leeren Raum: erste großartige Ansätze bestehen bereits. Wir alle kennen Poetry-Slam-TV, die jetzt Jazz Slam Online zeigen und (auf Instagram) Quarantänetagebücher veröffentlichen. WortLautRuhr hat nun einen Twitch-Kanal. Im Kleineren gibt es die Liveshow von Sebastian 23 oder den Podcast von Friedrich Herrmann, die jeweils Stimmen aus der Slamszene zu Wort kommen lassen.
Versuchen wir schließlich auch, die Vorteile des Online-Betriebs zu nutzen: Menschen zu unserem Kanal einzuladen, denen etwa das Reisen zu Slam-Veranstaltungen oft nicht möglich ist, zum Beispiel weil sie Eltern sind, eine körperliche Einschränkung oder eine Erkrankung haben.
Was noch zu sagen ist
Bei all den Wünschen und der vorsichtigen Kritik bleibt zu sagen: Es ist schön, in einer so umsichtigen und solidarischen Szene zu sein, die über Geld spricht, einander auf Soforthilfen aufmerksam macht und auch sonst aufeinander achtet. Danke. Wir sehen uns im Internet!