Was mich auf Backstageböden liegen für das Leben gelehrt hat
Bevor ich 2017 auf meiner ersten Bühne stand, dachte ich mir: „Gut, dass mich niemand hinken sieht, wenn ich da oben stehe“. Gleichzeitig mit meinem ersten Auftritt begann auch ein Weg hin zu mehr Selbstakzeptanz. In diesem Prozess befinde ich mich gerade beim Texte über Behinderungen und Ableismus schreiben. Poetry Slam ist einer der Gründe, warum es mir heute leichter fällt, laut zu sein und über meine Erfahrungen zu sprechen.
„Du bist immer müde“
Es hat damit angefangen, dass ich in Workshop-Pausen geschlafen habe, während alle andern essen gegangen sind. Ich bin oft müde. Wenn mir mein Bein weh tut, wenn ich Wasser im Knie habe, wenn mein Becken schiefsteht oder sich meine Wirbel verkanten. Manchmal bin ich auch müde ob des müde seins. Und es hat niemanden gestört, dass ich schlief. Es hat nicht einmal jemand einen unnötigen Witz gerissen. Das war neu.
Als ich gesehen hatte, dass das geht, Kräfte tanken, ohne dass sich jemand darüber lustig macht, bin ich dann ständig eingeschlafen, auch in der Schule, in Backstages und einmal sogar auf der Bühne. Das war okay, weil es für mich okay war. Poetry Slams sind nämlich super cool, aber auch super anstrengend. Und irgendwann meinte jemand zu mir: „Linnea, du bist immer müde“ und ich sagte ja und dann folgte: „Wieso eigentlich?“
Obwohl ich vergleichsweise able-passing bin (man mir meine Behinderung also äußerlich kaum anmerkt), fragen häufig genug Menschen nach, zum Teil Wildfremde. Das ist anstrengend. Macht das bitte nicht. Ich meine nicht respektvoll das Gespräch zu suchen, das war in besagtem Beispiel für mich voll in Ordnung. Aber niemand redet gerne mit Fremden über die komplette Krankheitsgeschichte.
Und das war etwas, was Slam mir gegeben hat: die Möglichkeit zu entscheiden, wann ich wie viel erzähle und das in einem Rahmen, in dem ich mich wohlfühlte. Das war verdammt empowering, weil man diese Wahl im Alltag viel zu selten hat.
Warum ich in Backstages liege
Zugfahren und mein Rücken sind erbitterte Erzfeinde, langes sitzen strengt mich allgemein an. Früher oder später verkantet ein Wirbel und dann verschiebt sich das Becken und am Ende sitzte ich im Backstage und habe Schmerzen. Deswegen also auch die Sache mit dem Liegen. Ich liege gern auf Böden, wenn es meinem Rücken schlecht geht. Das habe ich sogar vor 2017 schon gerne gemacht, aber es war hin und wieder seltsam für andere. Im Backstage auch, aber es überwog nicht so wie anderswo.
Im Gegenteil: Ich habe nach Veranstaltungen Menschen mit Skoliose getroffen, die mir einen Trick zeigen konnten, mein Becken besser zu entlasten. Just fort the record: Bitte trotzdem Menschen (und gerade solchen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten) keine ungefragten medizinischen Ratschläge geben. Die bekommen wir nämlich schon oft genug und sie helfen uns quasi nie.
Slam war und ist ein Ort, an dem Menschen, die mich zum Teil kaum kannten, häufig wie selbstverständlich Rücksicht auf mich nahmen. Ein Ort, an dem ich jemanden ohne Ausbildung zur Physiotheraupeut:in bat, mir mein Kreuzbein einzurenken (again: tendenziell ganz schlechte Idee, macht das nicht) und an dem das sogar funktionierte.
Es ist aber auch ein Abwägen. Ich liebe Bühne und Menschen gleichermaßen, mein Körper eher weniger. Nach einer Nacht auf der Luftmatratze irgendeines Slammenschens, zum Beispiel, spielt mein Rücken lange nicht mehr richtig mit. Da fühle ich mich dann wieder ganz so wie früher, vor 2017. Wie jemand, der die coolen Sachen, einfach viel zu oft verpasst, weil sie mich zu müde machen. Das gehört eben auch dazu.
Die Bühne nutzen
Trotzdem habe ich diese Themen lange ausgeklammert, wenn ich auf der Bühne stand. Das war keine bewusste Entscheidung, ich wusste nur nicht wie. Wenn ich Witze über mich und meine Behinderung gemacht habe, dann oft aus der Gewohnheit heraus, dass es andere schon immer gemacht haben, selten böswillig, aber trotzdem oft verletzend. Über sich selbst herzuziehen ist ein wenig ein Schutzmechanismus für mich und mir ist lieber, ich mache die Sprüche, als jemand anderes.
Wieso sollte ich für Texte absichtlich darauf zurückgreifen?, dachte ich. Bis ich an einem Abend in die Situation geriet, dass es sich anbot und sich nicht seltsam anfühlte, sondern passend und befreiend. An diesem Abend aber fing ich selbst davon an, vor einem Publikum, das keine Ahnung von meiner Behinderung oder meiner Geschichte hatte.
Und als ich meine Texte gelesen hatte und der Abend vorbei war, stand plötzlich eine Zuschauerin vor mir und meinte, sie möge, dass ich so authentisch sei. Danach schrieb ich meinen ersten Text über den Umgang mit Behinderungen und chronischen Krankheiten. Je mehr ich darüber schrieb und las, desto mehr konnte ich dazu sagen, desto einfacher fiel es mir, darüber zu reden.
Slam war ein Beispiel, das mir gezeigt hat, dass es wichtig sein kann, öfter und offener über meine Behinderung zu reden auf und außerhalb von Bühnen. Dass es okay ist, wenn ich Ruhe brauche und wie ich Grenzen ziehe. Dass ich einen Platz habe, an dem ich sein kann wie ich bin. Und dass Backstage-Böden verdammt bequem sein können, weil sie den Rücken und den Geist entlasten.