Die U20/Ü20-Gap
Wo verlieren wir U20 FINTA* Slammer*innen, wenn sie zu alt für U20 Bühnen sind?
Mit diesem Artikel geht es mir nicht darum, eine konsequente Antwort auf diese Fragestellung zu finden – eher darum, die Frage selbst zu beleuchten und anhand dessen einen möglichen Diskurs anzuregen. Denn auch wenn diese Frage in feministischen Kreisen wie bei den Slam Alphas längst Relevanz hat, ist doch in anderen Teilen der Szene wohl gerade ihr Nichtstellen, ihre Nichtbeachtung, das eigentlich Fatale. Das vorhandene „Angebot“ auf dem „Markt“ an FINTA* Slammer*innen scheint oft als gegeben angesehen zu werden. Es wird nicht daran gedacht, dass sich eben dieses an sehr viel früheren Punkten als mit dem Beginn einer professionellen Karriere formt – und gerade im U20/Ü20 Wechsel auch Förderung bedarf. Diese Haltung oder wohl eher Nichthaltung hat sicher viele Ursachen, trotzdem aber liegt wohl mit großer Sicherheit ein wesentlicher Grund in der unbewussten Akzeptanz patriarchaler Strukturen, welche das Stellen der Frage nach dem „Auftretenden-Angebot“ und „Wo sind die U20er*innen hin“ per se wohl verhindert. Und genau an dieser stillen Beistimmung zeichnet sich die Wurzel des Problems am deutlichsten ab. Wir müssen nicht darüber sprechen, dass die immer noch währenden marginalisierenden Strukturen auf fast alle Lebensumstände und Entscheidungen von FINTA* Personen Einfluss nehmen. Dennoch müssen wir über ihre konkrete Auswirkung auf die junge Slamszene sprechen, uns fragen, an welchen Punkten diffamierende Anatomien, die wir in einer künstlerischen, aufgeklärten und progressiven Szene eigentlich gar nicht haben wollen, Überhand nehmen. Die Gründe liegen meiner Beobachtung nach doch weniger an individuellen Gegebenheiten, sondern an eben besagten misogynen Konstruktionen, gegen die anzukämpfen besonders für junge Menschen oft schwer scheint.
Achso, so ist die Szene also auch!
Als ich mit Poetry Slam begann, wusste ich sehr wenig davon, dass man damit Geld verdienen, touren, Meisterschaften gewinnen, „Slammer*in“ seinen Beruf nennen kann etc. Für mich war Slam einfach ein Treffpunkt, eine Bubble kreativer Menschen, die auf Bühnen Texte performen. Umso gravierender war es, als dann später bei Ü20 Slams so manches Backstage nichts mehr von dieser unbefangenen Atmosphäre hatte und meine Erfahrungen plötzlich von Mansplaining, sexistischen und chauvinistischen Kommentaren nach Auftritten, über unsachliche und respektlose Kritik bis hin zur Belästigung reichten. Aus gesellschaftlicher Sicht leider kein unbekanntes Szenario und irgendwo wohl auch zu erwarten – dennoch verfremdete es mein Bild der Szene.
Es sollte fester Bestandteil der U20-Arbeit sein, auch diese Seite der Szene an geeigneter Stelle zu vermitteln und insbesondere auch grundsätzliches Wissen über Touren, Gagen etc. zu teilen.
Pay them fair!
Dass ein*e U20er*in nicht die gleiche bzw. eine deutlich geringere Gage bei Auftritten bekommt, ist verständlich, dennoch gibt das junge Künstlertum keinen Freibrief zur Ausnutzung oder billigen Auffüllung des Lineups. Besonders junge FINTA* Personen haben oft von vorneherein ein geringeres Selbstbewusstsein ihrer Arbeit gegenüber, diese Leerstelle jedoch auszunutzen, im schlimmsten Fall sogar noch zu verstärken, weil man weiß, dass die Person keine faire Bezahlung einfordern wird, ist nicht nur verwerflich, sondern vor allem peinlich. Es führt zwangsläufig nur dazu, dass sich junge Künstler*innen ihren Nebenjob nicht mehr leisten oder diesen als solchen nie verstehen können.
Von Kunst, Unterhaltung und etc.
Fakt ist, die Slamszene lässt sich nicht richtig einordnen. Und genau in dieser Diversität, in diesem zwischen den Stühlen stehen liegt ihr Reiz. Somit ist sie etwas, das der elitäre Blick des Hochkulturellen oft nicht ist: inklusiv und bunt – und somit wahnsinnig wertvoll! Warum schreibe ich darüber hier? Viele werden gezwungen, an einem bestimmten Punkt ihr Schaffen einzuordnen, ihm eine begründete Präsenz zu geben. Eben dies steht unmittelbar mit einem Selbstverständnis und Bewusstsein der eigenen Arbeit in Verbindung. Wird an entscheidenden Punkten die Slam Szene von der Hochkultur diffamiert oder als hinderlich für eine literarische Karriere gesehen, schrumpft zuerst der Glaube an das Format, im schlimmsten Fall aber auch an sich selbst ziemlich schnell. Als Folge dessen gibt es möglicherweise weder ein literarisches noch ein Poetry-Slam-basiertes Schaffen und das Format kann auch nicht als „Sprungbrett“ funktionieren. Dabei ist gerade für viele heranwachsende Künstler*innen insbesondere Slam ideal, weil das Format ein riesiges Sammelbecken für viele Genres und Menschen ist und sich mit Line-Ups und neuen Randsäulen beständig erneuert und neudefiniert.
Über Erwartung und Praxis
Dass es im Slam kein „geschlechtsblindes“ Zuhörerlebnis und dadurch eine gewisse Erwartungshaltung an bestimmte Poet*innen gibt, ist längst bekannt. Jana Goller hat einen Begriff zutreffend auf weiblich gelesene Poet*innen bereits in ihrem Artikel U20 Slam, alle gleich, oder? erwähnt: „Mädchenlyrik“. Er wirkt einerseits entkräftend tatsächlicher Lyrik junger Frauen gegenüber und andererseits ebenfalls hemmend auf solche, die eigentlich andere Genres bedienen möchten. Weil er einerseits als abschätziger Begriff benutzt wird, zum anderen aber auch subtile Erwartungshaltung des Publikums ist. Was nebenbei dazu kommt, ist, dass leider auch noch 2021 jungen FINTA* Personen die Wichtigkeit oder Relevanz ihrer Themen oder ihres ganzen Auftritts abgesprochen wird. Das muss nicht einmal durch konkrete Formulierung passieren, nimmt dieses Denken ja schon durch Phänomene wie reine Männer Lineups subtil seinen Lauf. Es passiert auch viel dagegen, was sicher jedoch am besten hilft, ist: „Patriarchat zerschmeißen“ (Vgl. Lara Ermer: Please mind the gap).
Zur “Grenze” U20
Manche Poet*innen finden erst spät in die Slamszene und knacken kurz nach dem Beginn schon die 20er Marke, was sie nicht mehr berechtigt, im „geschützteren Rahmen“ aufzutreten und sie so vielleicht zu bald mit der „großen“ Szene konfrontiert. Jedem*jeder ist klar, dass Entwicklung Zeit und Raum braucht. Ist beides nicht mehr da, weil man zu alt ist, weicht man demütig zurück, weil man für das eine zu jung und für das andere noch nicht reif genug ist. Viele Workshopleiter*innen bieten es auch bereits an, freie U20 Workshopplätzen an ältere Poet*innen zu verteilen, um besagtes „durchs-Raster-fallen“ zu vermeiden. Was entfernt damit verwandt ist, ist ein manchmal undurchsichtiges System, wer zu Meisterschaften darf und wer nicht. In meinem persönlichen Umfeld wurde das immer nachvollziehbar entschieden, aber im Austausch mit anderen U20 Poet*innen gibt es auch ganz andere Szenarien. Je nachdem wer entscheidet und wie entschieden wird, ist natürlich klar, dass manche Poet*innen nie die Möglichkeit bekommen, überhaupt überregional aufzutreten und deshalb den Sprung von U20 zu Ü20 so schlicht nicht schaffen.
Last but not least
Wir können nicht so tun, als wäre die COVID-19-Lage normal und würde sich nicht benachteiligend auch auf dieses Phänomen auswirken. COVID-19 lässt junge Karrieren nicht unangetastet. Gerade die letzten Jahre von U20er*innen sind sehr wichtig, um ein Netzwerk aufzubauen – genau wie Ü20er*innen können wir gerade nicht auftreten und zusätzlich nicht an der Grundvoraussetzung dafür bauen. Um dieses Thema nicht in noch größerer Tragweite nach der Pandemie vorzufinden, ist es wichtig, eine Konstante für U20er*innen zu finden, die Ihnen einen gewissen Halt gibt. Das passiert schon durch digitale Workshops und dergleichen, dennoch spreche ich wohl für einen Großteil meiner Slamgeneration, wenn ich sage: man fürchtet ein bisschen, den Anschluss zu verlieren. Nicht nur an die Slamszene, sondern auch untereinander. Wir brauchen eine Idee für eine Pandemievernetzung, vielleicht eine Art U20-Plattform oder offene Gruppe mit Veranstalter*innen und Auftretenden, um sich über die Lage und generell auszutauschen, Erfahrungen zu teilen und zu vernetzen – facebook, telegram etc. es gäbe da ja zum Glück tolle Möglichkeiten.
Zum Schluss bleibt nur noch zu sagen: Empowerment, Vernetzung und Einmischen!!!