Queer-Media-Society trifft Slam Alphas
Zur Vorstellung: Alexander Graeff ist Schriftsteller und Philosoph. Seit 2016 arbeitet er in der Literaturvermittlung und hat davor an vielen Unis gelehrt. Er verantwortet in einem Kulturzentrum in Berlin das Literaturprogramm und ist kulturpolitisch aktiv.
Die Queer-Media-Society (QMS), die es seit 2019 gibt, betreibt queerpolitischen Aktivismus explizit im Medienbetrieb des deutschsprachigen Raums. Die QMS hat zum Beispiel in der Sektion Film, TV und Fernsehen auch die #Actout-Kampagne mit angestoßen.
L: Hallo Alexander, danke dass du dir heute Zeit genommen hast. Steigen wir direkt mit einer Frage ein, die uns länger beschäftigt. Queerer Aktivismus ist so wichtig im Medienbereich, weil Bücher und Filme auch unser Wirklichkeitsverständnis konstruieren: Ab wann würdest du denn sagen ist ein Text queer und politisch?
A: Politisch ist ein Text in meinen Augen, wenn er etwa bestimmte strukturelle Probleme verhandelt. Aber nicht nur im Sinne einer direkten, affirmativen „Hey ich bin dafür oder dagegen“-Position. Über Liebe – das Thema in der Literatur überhaupt – denken zum Beispiel immer noch genug Leute, sie sei etwas von der politischen Sphäre Abgekoppeltes. Ich frage mich dann immer: Wie kann man das verantworten? In vielen literarischen Texten über Liebe werden nach wie vor bestimmte Themen und Personen ausgeblendet. Und doch ist Literatur politischer geworden. Ich benutze gern die Wendung „engagierte Literatur”. Das ist für mich ein Schreiben über den Körper und seine politische wie ästhetische Dimensionen. Das setzt sich aber auch im ganz Großen fort, berührt zum Beispiel bio- oder klimapolitische Diskurse. Politische Repräsentation in Texten kann man auf jeden Fall nicht durch Zählen der weiblichen oder queeren Figuren generieren oder aus Sicht der Lesenden „berechnen“ – zu quantifizieren kann nicht der Weg sein. Ich finde es viel wichtiger, dass man über strukturelle Probleme von Gesellschaft und Literatur nachdenkt. Es geht darum, dass Literatur ein diverses Bild der Gesellschaft widerspiegelt. Und dann kommt noch die ästhetische Ebene dazu. Stichwort: Stereotype! Stereotype sind nicht nur politische Probleme, sondern auch ästhetische.
I: Sehr pauschalierte Ansätze, also Stereotype auf ästhetischer wie auf politischer Ebene passieren leider im Poetry-Slam auch des Öfteren. Wenn es um ästhetische Diskurse geht, grenzen sich die Boomer Generation und die Generation X von politischen Komponenten oft ab. Wie siehst du das?
A: Es ist tatsächlich gar nicht mehr so selten, dass sich Autor*innen auch politisch äußern, das wäre jetzt sozusagen die andere Ebene. Das eine ist der Text, das andere ist der Aktivismus, den du als Autor*in betreibst. Aber du musst das ja nicht explizit tun; das funktioniert auch über den Text. Viele entscheiden sich aber tatsächlich auch über ihre eigenen Werke in einem politischen Kontext zu sprechen. Und ich finde das dringlich. Wie man Literatur machen kann ohne die politischen Ereignisse seit 2015 einzubeziehen, ist mir schleierhaft.
I: Aber findest du es dann auch wichtig, diese Ereignisse explizit zu thematisieren? Denn es ist ja immer die Frage: Wie wird es rezipiert? Vorausgesetzt man macht es nicht so eindeutig und will keine Stereotypen bedienen. Manche Leute erkennen die queerfeministische oder politische Dimension möglicherweise nur, wenn das Werk irgendwie Stereotype bedient. Und gerade wenn es nicht so eindeutig ist – findest du es dann wichtig, das kenntlich zu machen – damit du für dich „garantieren“ kannst, dass es auch so rezipiert wird? Oder bevorzugst du eher eine offene Stilistik?
A: Die Debatte ums Labeling ist immer ambivalent – genauso wie ja auch politische Repräsentation ambivalent ist. Du kannst noch so sehr von fluiden Identitäten ausgehen, wenn du aber tatsächlich politisch repräsentiert werden oder repräsentieren willst, dann musst du einen Begriff für deine Personengruppe finden. Das bleibt ambivalent, weil du mit einem Begriff gleichzeitig dein Anliegen verkürzt – und das passiert in der Literatur genauso. Die Betitelung „queere Literatur“ in Buchhandlungen zum Beispiel ist für viele eine Möglichkeit, sich zu orientieren und sich zu identifizieren. Aber gleichzeitig wird diese Literatur auch durch das Label von anderen Literaturen abgesondert. Über diese Gefahren des Labelings muss man sich im Klaren sein – auch auf eine*n selbst bezogen. Ich bin bi+, ich bin queer, ich bin cis Mann, oder ich habe diese oder jene sexuelle Orientierung; all das verkürzt letztlich die Vielfalt und Vagheit von Personen. Ich persönlich würde eher von einem Selbstbegriff ausgehen, statt von Identität zu sprechen. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist: Ich glaube, dass man Leser:innen unterschätzt. Wenn queere Autor:innen Manuskripte abgeben, wird von Entscheider:innen argumentiert, dass man nicht sicher sei, ob die Leser*innenschaft schon bereit sei etwa für eine schwule Sexszene. Leser:innen sind bereit für alle möglichen Texte und die meisten bringen auch Neugier mit. Verleger:innen sollten ein bisschen mutiger sein, das gilt auch für Veranstalter:innen. Die müssen sich trauen, mehr queere Autor*innen einzuladen, vielleicht auch mal nicht-weiße Stimmen, einfach mal ein bisschen Vielfalt reinbringen. Nochmal zu den Ästhetiken, ich muss gestehen, dass ich kaum Zugänge zum Poetry Slam habe. Aber ich sehe schon eine starke Verbindung zur Gegenwartslyrik, vielleicht auch starke Verbindungen zu Hip Hop und musikalischen Elementen. Das ist schon mal eine gute Grundlage für Vielfalt, finde ich.
I: Poetry Slam ist mittlerweile ein Format, das in den Mainstream gerückt ist. Das kann man einerseits kritisieren und das tun wir auch oft, andererseits erreicht man damit eine breite Masse an Personen. Welche Chancen bieten sämtliche Genres, auf gegenwärtigen Slam–Bühnen deiner Meinung nach für einen „Queer-Shift“?
A: Grundsätzlich würde ich es als Chance begreifen, wenn ein Genre mehr Resonanz erfährt, weil man so auch mehr Menschen erreichen und ein gesellschaftliches Bewusstsein prägen kann. Ich glaube, der performative Aspekt am Poetry Slam ist der Schlüssel. Literatur ist oft noch sehr stark an das Medium Buch gebunden, damit kämpfen nicht nur Lyriker*innen, sondern auch „traditionelle“ Schriftsteller*innen. Natürlich gibt es mittlerweile Pluralisierungseffekte, wie Self Publishing, digitale Präsentationsformen für Literatur und Bühnenperformances. Poetry Slam, denke ich aber, ist ein Phänomen, das in diese Richtung geht. In der Gegenwartslyrik gibt es auch die Bewegung, Literatur als soziale Praxis zu begreifen, als etwas, das Begegnung schafft. Zum Beispiel kommen bei Lesungen Schreibende und Leser*innen zusammen und verhandeln mitunter gesellschaftliche Diskurse. Ähnlich beim Poetry Slam: Hier wird deutlich, dass Literatur übrigens wie Bildende Kunst und Darstellende Kunst auch, soziale Prozesse abbildet. Weder Kunst noch Literatur entstehen in einem gesellschaftlichen Vakuum – sie können nur wirken, wenn ich das für andere tue: mich auf eine Bühne stellen oder ein Buch schreiben. Ich finde den Aspekt des Performativen ganz wichtig und würde sogar sagen, dass die Gegenwartsliteratur genau das vom Poetry Slam lernen kann, aber ebenso auch von darstellender Kunst und Musik. Und zur Lyrik: Ich glaube für die Verhandlung von gesellschaftspolitischen Themen ist Lyrik gut geeignet, weil sie so nah an der Sprache ist. Man hat viel mehr Freiheiten, kann mit unterschiedlichen Formen experimentieren usw. Aber auch in der Prosa gibt es ganz spannende Entwicklungen, beispielsweise sehr poetische Prosa. Diese Gattungsauftrennung ist auch wieder so typisch; Schubladen, verbunden mit dem scheinbaren Gesetz „bewegt euch ja nicht an den Grenzen, sonst habt ihr keinen Erfolg” – Schwachsinn.
I: Total interessant! Wir haben noch sehr viel mehr Gesprächsstoff, aber nicht mehr viel Zeit noch eine abschließende Frage: Hast du einen Buchtipp für unsere Leser*innen?
A: Es ist gerade ein Band erschienen, eine Anthologie mit queerer Lyrik, „Parabolis virtualis“ im Queer Verlag. Das ist als Reihe geplant. Der zweite Band ist schon in Vorbereitung. Da sind super vielfältige Stimmen drin – im zweiten Band auch Personen mit Spokenword-Texten. Diese Anthologie kann ich empfehlen, weil sie gerade auch Grenzen innerhalb der Literatur überschreitet.
I: Vielen Dank für das tolle Gespräch!