1. Mai 2022

Über das Anwenden von Literatur

Anmerkung der Redaktion: Grosch ist Regisseurin und Autorin, Ulrichs ist Literaturwissenschaftlerin, Performerin und Autorin. Als Kollektiv Ulrichs und Groschen erarbeiten sie u.a. Theaterstücke und Szenische Lesungen.  Wir haben sie gebeten, als Special für unseren Blog einen Text über ihre Perspektive auf das Schreiben zu schreiben. Vielen dank für den inspirierenden Einblick!

 

ALS WIR SCHNÖKELBRAM

über das Anwenden von Literatur

 

I. SCHREIBEN
-Schreiben ist eine verschwörungstheoretische Praxis, bei der man winzige Symbole (genannt Buchstaben) via Stift oder auch Taste auf einen Ort bannt, in der Hoffnung, dass das eine liest und darüber hinaus auch noch versteht. (1)
-Schreiben ist elektrische Ladung. Aus meinen Hexenfingern strömen die geladenen Teilchen, die Teilchen erzeugen Energie, stoßen ab, ziehen an, wiegeln auf, kehren um. Es zucken Blitze, Metaphern krachen durch die Stille, verdrehte Bilder erzeugen Reibung.
Irgendetwas Unausgegorenes verantwortet einen Kurzschluss. Schluss.
-Schreiben ist Verbalisieren von Gedanken und Dingen, die es davor noch nicht gegeben hat. (2)
-Schreiben ist ein Krampf. Ich schreibe nicht gern. Es ist anstrengend. Es ist gefährlich. Ich habe nach drei Zeilen meist solchen Hunger, dass ich das Schreiben für eine kürzere Mittagspause unterbrechen und mir überlegen muss, welche Speise geeignet sein könnte, mich zu stabilisieren, aber nicht zu beschweren (ja, ich bin auch anfällig für Müdigkeit). (3)

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(1) Schreiben ist Hoffnung.
(2) Allerdings ist schreiben auch Abstraktion, denn obwohl es die geschriebenen und noch zu schreibenden Dinge und Gedanken noch nie gab, verwenden Wir Vokabeln, die teilweise schon tausende Jahre alt sind. Das kann nicht zusammenpassen. Damit wir aber irgendeine Chance auf Verständnis haben, sagen wir statt „Schnökelbram“ lieber „Schreiben“, obwohl wir eigentlich diesen einen ganz speziellen Vorgang meinen, zum Beispiel den, diesen Text hier zu schreiben, was ein singuläres Ereignis ist und somit eigentlich seinen eigenen Namen (SCHNÖKELBRAM) verdient. Aber Oh! Oh, ohne Verständnis (gegenseitig) ist diese Welt so, so einsam. Und Oh! Oh, das Leben als Autorin ist oh, oh ohnehin schon verdammt einsam. (2.3)
               (2.3.) Schreiben gegen die Einsamkeit (weil man quasi die ganze Zeit Selbstgespräche führt, oder
sich zu einem Kollektiv zusammentut).
(3) Niemand schreibt gerne. Das ist für alle schwierig und anstrengend und stellt immer eine Überwindung dar. Na, aber wieso wird denn dann immerfort geschrieben? Wären wir jetzt ein Mann, würden wir etwas Schicksalhaftes behaupten wie – Aber nein, wir sind kein Mann, wir sind zwei Frauen und wir sind genervt. Genervt davon, dass man einen Beruf haben muss, zum Beispiel. Genervt davon, dass es sich in dieser neoliberalen Welt immer gut anfühlt „etwas geschafft zu haben“ (z.B. 3 Seiten vollgekritzelt zu haben, egal, ob die Sinn ergeben oder nicht, aber da kannst du drauf zurück gucken, da kannst du sagen „alles was ich da jetzt schwarz vollgekritzelt habe, das war vorher alles weiß und leer und ich hab das gemacht, ich hab das geschafft“. (4) – Toll Christine! Nur weil du es einmal nicht aushältst, leere Seiten zu sehen und sie nicht sofort zu beschmieren! Weil du es einmal nicht aushältst, deinen Tag absolut unproduktiv zu gestalten! Weil du es nie ertragen würdest, hättest du den ganzen Tag geschlafen und keine Hose angezogen, obwohl es Montag ist und du noch nicht einmal verkatert bist! Christine, Yoga hilft dir da nicht weiter. Und komm, Christine, gib es einfach zu, so viel schreibst du nicht. So viel schaffst du nicht. Du machst das nur, um uns allen anderen, die ab und zu montags trotzdem verkatert sind, ein schlechtes Gefühl zu geben.) Wir sind genervt davon, dass, wenn man den ganzen Tag redet (statt zu schreiben), der Mund so fusselig trocken ist. Also schreiben wir.

     

II. LESEN

-Lesen ist vermuten und behaupten (5)
-Lesen ist die Aufschlüsselung einer verschwörungstheoretischen Praxis, bei der man die Bedeutung von winzigen Symbolen (genannt Buchstaben) in seinem Kopf in einen Zusammenhang bringen muss. Wie Mathe oder Latein. (6)
-Lesen ist sehr einsam. (7)

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(5) weil man, so sehr man auch Literaturwissenschaften auch studiert hat, einfach gar nicht wissen kann, was und in welchem Umfang das, was man da liest, eine Bedeutung trägt und man kann nur vermuten und hoffen, dass die Bedeutung, die beim Schreiben gemeint war, der Bedeutung, die man beim Lesen quasi selbst erfindet, sehr nahe kommt. Aber wissen kann man das nicht.
(5.1) Und dann geht man in eine Kantine und erzählt man hätte das Hegel-Gesamtwerk gelesen, und alle nicken und sagen „ja ja ich auch“, aber ha! Keiner hat das gelesen! Mit Sicherheit!
(5.2.) Das Hegel-Gesamtwerk ist ja auch so eine Art Happening, eine kollektive Performance, bei der alle wissen, was ein Hegel-Gesamtwerk bedeutet und wie man dazu tanzt, aber niemand kennt den Inhalt. Zumindest nicht in Kantinen. Cool ^^.
(6) Vergleiche hier die sogenannten Fußnoten. Das ist ja wie Mathe oder Latein. Wer sich da freiwillig durchkämpft, spinnt auf jeden Fall.
(7) Was diesen ganzen Kreislauf oder auch das Lineare oder halt die Wechselwirkung von Schreiben und Lesen zu so einem wundervoll romantisch abgerundeten Ding macht. Man muss ja auch mal alleine klarkommen, Christine!

 

III. ALLES ANDERE (ANWENDUNG)
wird oft kategorisiert in so etwas wie EIN Lesung, oder EIN Theaterstück, oder EIN Musik auch, oder EIN Film, oder aber auch EIN Sticker auf einer Toilette in einer Bar, in einem Stadtteil, in dem es schon bald keine Bars mit Stickern auf den Toiletten mehr geben wird. In jedem Fall ist dieses ALLES ANDERE ein Ereignis, ein sogenanntes Phänomen. Etwas, das in dieser Form so ganz einzigartig daherkommt.

Der Text bekommt Beine, er bekommt Fangarme und Zähne, er lässt sich nicht mehr so leicht zusammenfalten, vielleicht, weil ihm Podeste aus Sperrholz zugewachsen sind. Plötzlich wird der Text selbstständig, klar: Seine Beine wendet er nun an. Er geht herum. Wie lange, das bestimmen im Zweifel nicht einmal mehr Wir, die Wir ihn, den Text, oder sie, die Satzkolonne, doch geschaffen haben! Aus einer Fiktion eine Realität machen. (4) Dabei vom Gewicht dieser Realität nicht erdrückt zu werden, sondern spüren, trotz der Eigengesetzmäßigkeit, die das entblößt.

Jetzt steht das Anwenden so bitter am Ende, obwohl es ja doch eher an den Anfang passt. Es geht nicht nur darum, dass das sogenannte Publikum dann irgendwas damit macht, sich irgendwie davon aufgefordert fühlt. Nein, es geht darum, dass man immer irgendwas anwendet. Das Schreiben als reines Erzählen ist, oh Entschuldigung, so öde. (1312)

Es gibt ja doch das Format des Textes, welches immer von oben und links und rechts und auch von unten auf den Inhalt draufdrückt und mindestens das muss man aufeinander wirken lassen, also anwenden. (8)

Außerdem ist mir noch eingefallen, dass die Zufälligkeit der eigenen Gedanken, die man da so krampfhaft versucht, aufs Papier oder in den digitalen Raum zu schmieren, nicht zu unterschätzen ist. Warum den Zufall also nicht zum übergeordneten Prinzip machen? Einfach alles aufschreiben, was einem durch den Kopf geht, ich muss noch Klopapier besorgen, und es für gleich wichtig betrachten.

Der Zaubertrick, den das Schreiben darstellt, ist wie eine Überraschung, die man sich selbst macht.

Was werde ich heute formulieren? Wen DENKE ich mir jetzt AUS? Was ESSEN meine Figuren?

Essen sie? Wenn nicht: WARUM NICHT? Was ist das für eine ungeheuerliche Welt, die ich mir da ausgedacht habe? Ich weiß es nicht, bevor es nicht geschrieben und gelesen wird. So ist das Schreiben, und folgend das Lesen, nichts weiter und so unheimlich viel: Eine Methode, eine Anwendung, sich selbst Dinge aus der Nase zu ziehen, wie aus einem Clownsauto. Mit einem Stift in der Hand kann ich aus der Nase zaubern. Die Bedingungen des Zaubertricks sind uns selbst bekannt, doch das, was passieren könnte und was passiert und was nicht passiert, ist auch für uns Zauberinnen selbst, verblüffend. Ja, ich bin Elektrikerin, aber DAS hab ich noch nie gesehen! (9)

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(4) Schau Christine, da, du kannst es nie geschafft haben. Nicht du alleine mit deinem selbstauferlegten Zwang zu Produktivität.(1312) Eine, die ich sehr verehre, hat mal gesagt, sie langweilt sich schnell beim Schreiben oder kämpft gegen Unlustgefühle am Schreibtisch (ich beispielsweise schreibe ja im Bett (1313) Das wäre jetzt, oh Entschuldigung, so eine langweilige, nacherzählte Anekdote, oh Entschuldigung.
(8)

Zum Beispiel,
wenn man einen Text
über einen Kreis schreiben will
sollte man zumindest versuchen
rund zu schreiben. So kann es
auch passieren, dass man
noch einen Satz

(schreiben muss, damit der Text rund wird, und dann kriegt man den Satz aber nicht zu Ende, weil der Text schon rund geworden ist. Und all diese zusätzlichen und unvollständigen Sätze entstehen durch den Inhalt und bedingen ihn gleichzeitig.)
(9) Funkenflug: Alles ist erlaubt.