22. Juni 2021

Nähe und Distanz

 

…über Grauzonen und Grenzen abseits der Bühne

 

Ich habe mich in letzter Zeit öfter gefragt, wie ich zukünftig Menschen begrüßen werde, wenn Corona uns allmählich in Ruhe lässt. Vor der Pandemie, war das für mich immer klar. Menschen, die ich nicht kannte habe ich die Hand gegeben oder ihnen zugenickt. Menschen die ich kannte und mochte habe ich umarmt. Aber mach ich das dann einfach wieder so, wenn wir wieder dürfen? Oder haben sich meine Bedürfnisse nach körperlicher Nähe verändert nach all der Zeit?

Wahrscheinlich geht es nicht nur mir so. Wir alle haben unsere eigenen Vorstellungen, wenn es um Nähe und Distanz geht, nicht nur im physischen Sinne. Und diese können sich ändern, vollkommen unterschiedlich sein und vor allem müssen sie immer wieder neu austariert werden.

Gerade in der Slam Szene sind Grenzen oft fließend. Zum Beispiel die Grenze zwischen Hobby und Beruf, die Grenzen zwischen Bühnenbekanntschaften und Freundschaften und so sind auch die Verhältnisse zwischen Nähen und Distanz abseits der Bühne oft nicht klar definiert.

Das kann erfrischend und befreiend sein im Gegensatz zu den Regeln und Normen unseres Alltagslebens, dennoch reden wir in den letzten Jahren auch immer mehr über Machtstrukturen und Übergriffe in unserer Szene, die innerhalb dieser Graubereiche entstehen.

Vor allem seitdem ich selbst veranstalte und U20-Arbeit mache, habe ich mir ein paar Grundsätze geschaffen, wie ich die mit diesen Grauzonen und Grenzen umgehen möchte.

Der folgende Beitrag ist also keinesfalls allgemeingültig zu verstehen, sondern als Vorschlag. Er enthält einen Checkbogen, den ich für sinnvoll halte, um ein bisschen mehr Klarheit zu schaffen und toxischen Strukturen weniger Raum zu geben. Es sind Aufforderungen und Hinweise enthalten, die sich an Auftretende und Veranstaltende, sowie alte Hasen und Neulinge richten. (Manchmal sind auch hier die Grenzen fließend). Im besten Fall beleuchtet er dunkle Ecken, über die wir uns bisher noch nicht genug Gedanken gemacht haben und stößt Diskussionen an, die wir zukünftig mehr führen sollten.

Aber vielleicht fangen wir damit an, dass ihr einmal durchcheckt, in welchen Punkten wir uns einig sind oder widersprechen.

  1. Checkt eure Rolle!

Wir alle nehmen verschiedene Rollen ein. Ich zum Beispiel bin allein beruflich freischaffende Künstlerin, Sozialarbeiterin und Veranstalterin und Studentin. In jeder dieser Rollen zeige ich nur einige Facetten von mir und verhalte mich anders. Mit meinen Slam Bekanntschaften spreche ich anders als mit meinen Arbeitskolleg*innen in der Jugendhilfe. Mit meinen Auftretenden als Veranstalterin gehe ich anders um, als mit meiner Klientel als Sozialpädagogin.

Je nachdem, in welcher Rolle wir gerade stecken, übernehmen wir andere Aufgaben und Verantwortungen und sollten uns überlegen, worauf wir wertlegen.

Was ist uns wichtig als auftretende Person? Was ändert sich für uns, wenn wir Veranstaltende sind? Wie viel erzählen wir von uns, wenn wir Workshops leiten? Wer darf unserer Handynummer haben oder uns bei Facebook schreiben?

Wenn wir diese Dinge im Vorfeld mit uns selbst abklären, wird es uns in vielen Situationen wesentlich leichter fallen, zu handeln und uns abzugrenzen.

 

  1. Checkt euren Status!

Ja ich weiß, wir alle wünschten es gäbe keine Hierarchien und Machtstrukturen in der Slam Szene und wir alle wären eine große Slamily. But the truth is: DOCH!

Ich selbst liebe Poetry Slam für seine Niedrigschwelligkeit und es war das Größte für mich, dass ich so bald nach dem ich begonnen hatte, schon mit Leuten auf der Bühne stand, die ich aus YouTube Videos kannte. Aber das birgt eben auch Tücken.

Konstruktives Feedback einer erfahrenen Person kann für Newcomer*innen große Wertschätzung bedeuten. Ein unüberlegter Satz hingegen kann viel Schaden verursachen.

Beispiel: Wir unterhalten uns mit einem*r Anfänger*in im Backstage. Sie*er bittet uns um Feedback für einen Text. Wir tauschen Facebook Kontakte aus. Ein paar Tage später schauen wir über den Text, geben unsere Rückmeldung und schreiben noch so ein wenig hin und her. Für uns waren das ein paar nette Worte, weil wir die Person offen in unserer Szene willkommen heißen wollten. Nun schreibt die Person uns am nächsten Tag wieder und fragt wie es uns geht. Und nun?

Wenn wir nicht antworten, ist die Person vielleicht verunsichert oder es wird unangenehm, falls wir uns nochmal begegnen. Wir wollen uns aber auch nicht auf den freundschaftlichen Kontakt einlassen. Klare Worte können auf Verständnis treffen, vielleicht aber auch entmutigen.

Achtung: Es gibt in solchen Fällen oft kein klares falsch oder richtig. Je nachdem wie wir Soziale Medien nutzen, können nur wir selbst einschätzen über welche Kanäle wir eine professionelle Distanz wahren können. Und ob unsere Offenheit oder Zurückhaltung falsch aufgegriffen wird, ist auch immer von der anderen Seite abhängig.

Es ist aber schon mal gut, wenn wir uns bewusst machen, dass unsere Erfahrung und Vernetzung in der Szene Einfluss darauf hat, wie uns die Leute begegnen. Und dass unsere Worte und Handlungen für Menschen, die vielleicht noch nicht so lange dabei oder weniger erfolgreich sind als wir, von größerer Bedeutung sein könnten, als wir denken.

 

  1. Checkt eure Grenzen!

Womit fühlen wir selbst uns eigentlich wohl auf Veranstaltungen? Werden wir gern mit einer Umarmung begrüßt? Quatschen wir gerne mit den anderen Auftretenden vor einem Auftritt oder brauchen wir unsere Ruhe? Hängen wir gerne noch lange auf der Aftershow, oder bleiben wir immer nur aus Pflichtbewusstsein noch? Gibt es Personen, mit denen wir nicht in einem Line-Up auftreten möchten?

Ich frage das, um deutlich zu machen, dass wir die Wahl haben (sollten). Ich weiß, dass die Angst groß ist, sich irgendwelche Wege zu verbauen, wenn man nicht gut socialized im Backstage. Aber es ist nicht in Ordnung, wenn wir uns verstellen müssen, um Kontakte zu knüpfen und gebucht zu werden. Dafür sollte hauptsächlich die Qualität unserer Auftritte ausschlaggebend sein.

Und das sollten sich auch Veranstaltende zu Herzen nehmen. Sympathie spielt in unserer autodidaktischen Szene leider immer eine große Rolle dabei, wer eingeladen und gefördert wird. Aber introvertierte Menschen haben es z.B. durch dieses System einfach signifikant schwerer, gesehen zu werden. Auch hier gilt, sich diese Mechanismen bewusstzumachen, ist schon die halbe Miete, um aus diesen Strukturen auszutreten.

       Grenzen 2.0

An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal explizit über Vertrauenspersonen sprechen. Als Menschen, die sich viel in der Szene bewegen, vor allem aber als solche, die gewisse Verantwortungen übernehmen, zum Beispiel als Veranstaltende oder in der U20-Förderung, kann jede*r von uns potentiell von Personen ins Vertrauen gezogen werden.

Die Beispiele sind zahlreich. Eine befreunde Person berichtet uns bei WhatsApp über eine Situation, in der sie sich unwohl fühlte. Auf der Aftershow erzählt eine betroffene Person von einem Übergriff in der Szene. In einem Workshop schreibt ein*e Jugendliche*r über Suizidgedanken. Und so weiter, und so weiter.

Diese Dinge ernst zu nehmen und zuzuhören ist wichtig. Sich abzugrenzen aber auch.

Es ist vollkommen ok, zu sagen, dass wir auf einem Gebiet keine Fachkräfte sind und auf andere Stellen zu verweisen.

Als Sozialpädagogin in der Jugendhilfe, mache ich auch keine Schuldenberatung bei meinen Klient*innen, sondern vermittle sie weiter, wenn ihr Konto überzogen ist. Und auch ich hole mir Rat von Kolleg*innen, wenn ich nicht weiter weiß in meiner Fallarbeit, obwohl ich das studierte habe.

Das ist kein Zeichen von Unfähigkeit, sondern von Professionalität und wird von den sich Anvertrauenden in der Regel auch eher als Wertschätzung ihrer Anliegen aufgefasst.

Es steht allen frei, die Personen, die sich uns anvertrauen, auf ihrem Weg zu begleiten. Wir selbst entscheiden auch, wie intensiv unsere Unterstützung ausfällt. Aber keinesfalls sollten wir uns Aufgaben und Verantwortungen überhelfen, für die es Profis gibt. Das hilft am Ende auch den Betroffenen nicht.

Kulturschaffende sind keine ausgebildeten Psycholog*innen oder Berater*innen!

 

  1. Checkt euren Pegel!

Last but not least. Der gute alte Alkohol. Auch wenn die Zeiten sich langsam dem Ende neigen, auf denen es auf Slams fast ausschließlich Alkohol in diversen Erscheinungsformen zu gewinnen gab und am Ende noch auf der Bühne ein Siegschluck aus der Schnapsflasche einfordert wurde, spielt dieses Nervengift ja nach wie vor eine große Rolle auf unseren Veranstaltungen und ist oft daran beteiligt, das Grenzen verschwimmen.

Ich glaube, fast alle von uns, die dem Alkohol nicht abgeneigt sind, haben sich schon die ein oder andere peinliche Aktion nach einem Slam geleistet, als der Alkohol in Strömen floss. Manche davon sind ganz witzig, andere sind es leider einfach nicht. Die Slam Szene ist eben kein riesengroßer Freundeskreis. Sondern, wenn man es genau nimmt, sind wir Arbeitskolleg*innen, die sich unregelmäßig sehen.

Wie viel wir auf einer Veranstaltung trinken, müssen wir letztlich selbst entscheiden. Wir sind (überwiegend) erwachsene Menschen und Alkohol eine legale Droge. Allerdings sollte niemand zum Trinken überredet werden, dem nicht danach ist.

Mein Plädoyer geht in diesem Fall vor allem an Veranstaltende. Es spricht wirklich nichts gegen ein Gläschen Wein oder ein, zwei Bierchen. Aber ein guter Slam misst sich nicht an der Höhe des Pegels der Beteiligten und es ist nicht unsere Aufgabe, die Auftretenden zum Trinken zu animieren. Im Gegenteil. Wenn wir die Verantwortung für eine Veranstaltung übernehmen, dann sollten wir sie auch im vollen Bewusstsein tragen und uns nicht selbst, am besten schon während der Veranstaltung, aus dem Leben scheppern.

Irgendwer sollte auch auf der Aftershow den Überblick behalten. Vor allem, wenn potentiell vulnerable Personen dabei sind, oder Menschen, die wir nicht gut kennen oder einschätzen können. Denn genau hier beginnen die Graubereiche, in denen Grenzen zwischen Nähe und Distanz verschwimmen und hier entstehen auch die Situationen, die potentielle Täter*innen ausnutzen können.

Und gerade im U20 Bereich sollte Alkohol auf Veranstaltenden-Ebene Tabu sein. Punkt.

 

Mich würde es freuen, wenn wir zukünftig viel mehr darüber diskutieren würden, wie unsere Veranstaltungen sicherere Orte werden können, als sie es in der Vergangenheit oft waren. Wir können unangenehme Situationen und Übergriffe niemals gänzlich verhindern. Aber die Grauzonen in denen sie entstehen, können wir nur minimieren, in den wir sie markieren und eingrenzen. Von daher freue ich mich über Anmerkungen und Feedback zu diesem Beitrag.

Hoffentlich sehen wir uns bald wieder in irgendwelchen Backstages. Umarmungen wären für mich dann übrigens mehr als ok, falls wir uns kennen. ☺

Bis bald.

 

Fotocredits: Christoph Worsch, 2017